Reihe CineGraph Buch

Malte Hagener  / 
Jan Hans(Red..)

Geschlecht in Fesseln. Sexualität zwischen Aufklärung und Ausbeutung im Weimarer Kino, 1918 - 1933.

Malte Hagener / Jan Hans
VON WILHELM ZU WEIMAR
Der Aufklärungs- und Sittenfilm zwischen Zensur und Markt





 



»Die Aufhebung der Zensur an diesem Tage [12.11.1918] hatte zur Folge, daß der Film häufig der reinen Spekulation zum Opfer fiel. Wie bereits in der Frühzeit der Kinematographie rechnete man auf die niedrigen Instinkte der Masse und überschwemmte den Markt mit ›Schund- und Schmutzfilmen‹: Der Kampf gegen das Kino entbrannte von neuem, nachdem eine hemmungslose Produktion eingesetzt hatte mit minderwertigen Filmen, die es einzig und allein auf eine Verherrlichung des ›Sex‹ abgesehen hatten. Waren Titel und Untertitel, Werbeslogans und Standphotos in vielen Fällen auch weit betörender als nachher die Filme selbst, hat diese Art der Filmproduktion der jungen Kunst doch sehr geschadet.«1

So wie bei Friedrich von Zglinicki lautet noch immer die überlieferte Geschichtsbeschreibung der Zeit zwischen November 1918 und Mai 1920, die in zahlreichen filmhistorischen Werken repetiert wurde und wird.2 Ein kurzes, heftiges Beben, eine revolutionäre Eruption, ein Überkochen des Triebstaus, eine Springflut an Schmutz und Schund - biologische und geologische Metaphern herrschen vor. Der Aufklärungs- und Sittenfilm, ohnehin schwer zu definieren, wird übereinstimmend als Zäsur im dreifachen Sinne festgeschrieben: Die Kriegsfolgen führen zu einer "Entsittlichung und Verrohung" der Bevölkerung, die Revolution bringt die angestaute Energie zum Ausbruch - buchstäblich in den angesprochenen Metaphern -, und die Tatsache der Zensurlosigkeit sorgt schließlich dafür, dass dieser Bewegung nicht Einhalt geboten werden kann. Damit ist eine Epochentrennung in zwei Richtungen vorgenommen: Das Alte, Wilhelminische, wird abgelegt, das Neue beginnt, die Weimarer Republik.
Keineswegs lässt sich die (film)historische Bedeutung der Zeit 1918-1920 bestreiten, doch macht dieses Erklärungsmuster die Filmgeschichte auch blind für gewisse Phänomene, die in diese Zwischenzeit hineinragen oder einen Brückenschlag darstellen.3 Der Verabschiedungs- und Aufbruchs-Mythos ist durch eine in Epochengrenzen denkende Geschichtsschreibung genährt worden und hat sich mit einem anderen Schlagwort, dem der "zensurlosen Zeit", zu einer Vorstellung von Anarchie und Regellosigkeit verbunden - im gesellschaftlich regressiven (Chaos) wie im künstlerisch progressiven (Experiment) Sinne.
Betrachtet man die Aufklärungs- und Sittenfilme4 sowie andere Dokumente der Popularkultur (die oft aussagekräftiger sind als kanonisierte Kulturleistungen), so zeigt sich, dass diese Einschätzung auf vielen Ebenen in Zweifel gezogen werden kann: Die Filme erzählen nicht von Neuanfängen oder Aufbrüchen und schon gar nicht von einem revolutionären Umbruch. Vielmehr sind sie Zeugnisse einer hochgradigen Verunsicherung, eines ängstlichen Schielens auf einen Rest von Sicherheit. Sie sind getrieben von dem Impuls, die schnelle Mark zu machen, dabei aber nicht geprägt von der Abenteuerlust der Gründer, sondern von der Angstlust der in ihrem Status Bedrohten. Die Parole ist nicht "Die Karten werden neu gemischt - ergreife deine Chance!", sondern das geheime Motto lautet "Bloß nicht absteigen oder abstürzen!".
Diese Botschaft wird auf verschiedenen Ebenen variiert: Das künstlerische Programm wird den ökonomischen Interessen nachgeordnet, für eine kapitalistisch organisierte Wirtschaft wenig überraschend. Auf der narrativen Ebene vertreten die Filme eine konservativ-bewahrende Haltung; die angeblich wilden Auswüchse lassen sich fast nur an Titeln und Plakaten nachweisen, in den Filmen findet das Glück in kinderreichen Ehen statt, andere Beziehungen nehmen keinen guten Ausgang. Innerhalb der Geschichten werden alternative Lebensformen somit bestraft und verworfen. Auch die Glücksversprechungen, ein wichtiges Element der Massenkultur, zielen keineswegs auf die Verabschiedung der heterosexuellen Paarbeziehung ab, sondern auf deren Erhaltung; und die Orte, an denen das Glück zu finden ist, sind häusliche Umgebungen mit intakten Familien. Die Orte der Amüsierkultur, zu der das Kino gehört, sind stets mit Gefahr, Abstieg und negativen Werten verknüpft.5 Dies ist keineswegs ein simpler Rückschluss von den Filmen auf die Gesellschaft, sondern lässt sich anhand verschiedener Bereiche, die an Filmindustrie und Filmrezeption partizipieren, illustrieren.
Warum also die Aufgeregtheit, mit der kulturkonservative Stimmen jene moralische Enthemmung und sittliche Verwahrlosung beklagen, die sie dem Film anlasten, der angeblich einer "Kultur der brutalen Schamlosigkeit" zum Durchbruch verholfen hat? Die ersten Jahre der Republik sind eine Übergangszeit, in der noch so gut wie nichts verformelt ist. Das Schlagwort von der "zensurlosen Zeit" bekommt hier seine wahre Bedeutung: Es meint in einem sehr viel weiteren Sinne als eine in die Schranken verweisende Kontroll- und Verfolgungsbehörde das Auslassen von orientierenden Diskursen. Die Kehrseite ist keine Anarchie, sondern Freiheit. Allerdings nicht eine der Gesetzbücher, sondern eine der Diskurse und Lebensformen. Nachdem nahezu alles, worauf man sich 1914 - mühselig, aber immerhin - noch einigen konnte, zusammengebrochen war, galt es einen neuen Konsens zu finden.
In diesem Sinne ist die zeitgenössische Diskussion um den Aufklärungs- und Sittenfilm auch ein Stellvertreterkrieg, bei dem es um die Eckdaten eines noch zu findenden Konsenses für die Republik geht. In Gestalt der Aufklärungs- und Sittenfilme sieht sich eine dynastisch geprägte, autoritär ausgerichtete, körper- und sinnenfeindliche Philisterkultur dem Begehren nach Liberalisierung der Beziehungen und alternativen Lebensformen konfrontiert - wie schon 1910, nun freilich in einem veränderten Kräfteverhältnis. Im Kern geht es um ein Stück unerledigten Wilhelminismus, das in die Weimarer Republik hineinragt. Das zeigt sich an den behandelten Diskursen sowie an den filmischen Strategien, mit deren Hilfe diese erzählt werden.
Wenn Magnus Hirschfeld beispielsweise in ANDERS ALS DIE ANDERN über Homosexualität doziert, so ist das in der Form und in der Sache nicht neu - er hat es 1910 oder 1912 nicht anders gesagt. Er sagt es jetzt nur nicht mehr ortsgebunden und vor kleinem Publikum in einem Vortragssaal, sondern im Film. Wenn ihn die filmische Fiktion dafür allerdings wiederum an ein Pult in einem Vortragssaal treten lässt, wird schlaglichtartig deutlich, dass der Aufklärungs- und Sittenfilm zu einem Gutteil auch Produkt eines simplen Medienwechsels ist.6 Hirschfeld war schon im Kaiserreich eine öffentliche Figur und blieb dies in der gesamten Weimarer Zeit bis hin zur Verfolgung durch die Nazis. Hier besteht mehr als nur personelle Kontinuität.
Dasselbe gilt auch für andere Bereiche. Zahlreiche bedeutende Institutionen, Theorien und Figuren der Sozialhygiene und Gesundheitsfürsorge stammen aus der Zeit um die Jahrhundertwende: Psychoanalyse, Hirschfelds Institut für Sexualforschung, die Frauenbewegung und der Kampf gegen den § 218, um nur einige zu nennen. Erst die Weimarer Republik sorgte mit dem Film für die Popularisierung und Verbreiterung der Diskurse. Es handelt sich also keineswegs um eine neue Entwicklung, sondern um einen Medienwechsel - und sollte dementsprechend auch als solcher beschrieben werden. Auch eine Unterhaltungsindustrie ist nicht neu, dagegen die breite Basis, die diese plötzlich in den rasch expandierenden Großstädten fand.
Es gibt zahlreiche Kontinuitäten und Brüche zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik; die sogenannte "Aufklärungswelle" entsprang genau dieser Bruchstelle. Ein komplexes Bündel aus Wilhelminischen Gedanken und Interessen (Erhaltung der Volksgesundheit, Festhalten am Modell der klassischen Kleinfamilie, Kontinuitäten in der Organisation der Industrie), aus Folgeerscheinungen des Ersten Weltkriegs (Fronterfahrung, Walter Benjamins "Chock"-Erlebnisse als neuer Wahrnehmungsmodus, soldatische Sexualgewohnheiten inklusive Syphilis-Verbreitung und obszöne Zoten nach Landsermanier7, größere Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit der Frauen), aus zunehmender Verstädterung und Modernisierungstendenzen vermischte sich mit dem Durchbruch der Popularkultur und des Amerikanismus. Daraus entstand dieses Genre, das die Dringlichkeit der Probleme veranschaulicht und zugleich um einen neuen gesellschaftlichen Konsens bemüht war, auf den sich die schweigende Mehrheit einigen konnte. Diese Doppelbewegung - Thematisierung von Konflikten, die sich aus dem sozialen Leben ergeben, und Lösungsangebote, die in die Gesellschaft zurückfließen - findet sich in zahlreichen Bereichen der Filmbranche wieder, allerdings häufig von speziellen Interessen überdeckt und damit nur schwer erkennbar. Für einige Bereiche wollen wir den Diskurs nachzeichnen, spezifische Ausprägungen beleuchten und schließlich zeigen, wie sich ein Konsens eingependelt hat. In dieser Betrachtungsweise ist der Aufklärungs- und Sittenfilm also weniger eine Folge oder ein Symptom eines revolutionären Umbruchs, sondern Katalysator und Mittel, um einen Status quo zu erzeugen, der nicht allzu sehr vom vorherigen abweicht.

Wirtschaft und Industrie: Konservative Investitionsstrategien

Die Monate vom November 1918 bis zum Frühjahr 1920 waren von extremer politischer Unsicherheit geprägt. Es ist nicht allzu schwer, sich in die Lage eines Filmproduzenten hineinzudenken, der innerhalb eines politisch instabilen Systems Kapital investiert und einen schnellen Rückfluss erhofft, da er unter der ständigen Drohung der Verstaatlichung der Produktionsmittel arbeitet. Deshalb verfielen die Produzenten auf ein äußerst konservatives Rezept. Sie griffen auf ein Muster zurück, das durch seit 1916/17 Richard Oswalds großen Erfolg ES WERDE LICHT (mit drei Fortsetzungen) erprobt war, das relativ einfach, schnell und kostengünstig kopiert werden konnte - in instabilen Lagen kann man es sich nicht leisten, für seine Investitionen ein Jahr oder länger auf die Einnahmen zu warten - und das in seiner äußeren Sensationshaftigkeit schnelle Erfolge erhoffen ließ.
Die "zensurlose Zeit" wäre also in einer kapitalistischen Logik nicht zu sehen als eine revolutionäre Umbruchperiode, sondern als eine innenpolitisch brisante Gemengelage, als eine Zeit der Instabilität, in der keine künstlerischen Experimente gewagt wurden, sondern auf sichere Rezepte zurückgegriffen wurde: niedrige Produktionskosten, schnelle Amortisation, zugkräftige Stoffe, reißerische Außendarstellung.
Man hat den Filmen daher immer wieder den Vorwurf der "kommerziellen Verlogenheit" gemacht. Klaus Kreimeier hat zurecht darauf hingewiesen, dass "Kommerzialismus wesenshaft, nämlich im Interesse des Geschäfts, dahin tendiert, […] Schranken einzureißen […], mystifizierte Terrains zu enttabuisieren […, um] eine möglichst große Zahl von Menschen […] zu Konsumenten zu machen".8 Man muss das nicht notwendigerweise als eine "demokratische Verwaltung der Bedürfnisse" oder gar als einen "revolutionären Akt (im wohlerwogenen Profitinteresse)" bezeichnen - nicht von der Hand zu weisen ist jedoch, dass ein Diskurs, der um 1910 noch von einer intellektuellen Minderheit getragen und in gesellschaftlichen Nischen gepflegt wird, nunmehr unter dem Druck des Marktes massenkulturell mehrheitsfähig wird. So gilt für die gesamte Filmgeschichte (und wohl nicht nur dort): Es gibt keine technische oder diskursive Neuerung, die ohne oder gar gegen eine entsprechende Disposition und Bedürfnislage des Publikums durchzusetzen ist. Erfolgreiche technische wie diskursive Trends schaffen kein Bedürfnis, sie machen lediglich erzählbar, was ohnehin, wenn auch unartikuliert, vorhanden ist.
Was die zweite Hälfte des Vorwurfs - die Verlogenheit - angeht, so hat Kreimeier ihn auf den "Tribut an die Lüge" zurückgeschnitten: ein Tribut, der zum ersten darin besteht, dass diese Filme einen aufklärerischen Radikalismus sexualpolitisch sublimieren, zum zweiten, dass sie mit Filmtiteln, Plakaten und Werbetexten mehr versprachen als sie in ihren Bildern zu halten bereit oder in der Lage sind. Im übrigen, so Kreimeier, würden die so heftig gescholtenen Filme gegenüber den in der zeitgenössischen Publizistik ausgetragenen Debatten deutlich zurückfallen. Am Beispiel der beiden ersten Jahrgänge der Zeitschrift Das Tage-Buch zeigt er, was 1920/21 zur Auseinandersetzung anstand. Das Spektrum reicht von "Sport-Exhibitionismus" und "Scheidungswahn" über die Frage des "Entfruchtungsrechts", die "Rechte sexueller Minderheiten", den "Kokainismus", die "Perversionen des deutschen Mannes" bis zur "Philosophie des Fox-Trott" und der "Verhurung Berlins". Im Zentrum dieser Debatten macht er Erstaunliches aus: Im Kern geht es immer nur um das Eine - die Schwäche, die erotische Inkompetenz, die menschlich-gesellschaftliche Unreife des in Krieg und Nachkrieg in Frage gestellten deutschen Mannes. Von hier aus erschließt sich schlaglichtartig, warum überall dort, wo es in diesen Filmen um Statuserhalt und -verbesserung geht, Frauen als Vehikel der Auf- und Abstiegssagas fungieren.

Körper und Lust: Frauen als Einschreibeort

Das geheime Zentrum all dieser Beschwörungen, das Feld, auf dem dies ausgetragen wird, ist der Frauenkörper. Für das Pornografische am Aufklärungs- und Sittenfilm ist das unmittelbar augenfällig. Was aber ist mit dem wissenschaftlich auftretenden Film, der sich in den Dienst damaliger Vorstellungen über Individual- und Sozialhygiene stellt, der ernstzunehmende Aufklärung und Formen der Gesundheitspflege ebenso wie Lebensformen propagiert? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass eine solche Trennung zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem, zwischen Aufklärung und Ausbeutung nicht aufrechtzuerhalten ist, dass Schau- und Aufklärungslust an ihrem Einschreibeort eine merkwürdige Verbindung eingehen.
Die Verbindung von (vorgeblichem oder tatsächlichem) wissenschaftlichem Interesse, Film und Frauenkörper ist freilich keine Erfindung des Weimarer Sittenfilms. Linda Williams hat darauf hingewiesen, dass die Erfindung des Kinos unmittelbar aus dem wissenschaftlichen Diskurs über den Körper erwächst,9 wie er etwa in den Arbeiten von Muybridge und Marey geführt wird, die mit der "Chronophotographie" die zuvor unerfassten Grundlagen der Bewegung zu dokumentieren versuchen. Schon auf dieser frühen Entwicklungsstufe des Kinos ist die zu diesem Zweck ersonnene Beobachtungs- und Vermessungs-Maschinerie alles andere als ein unparteiisches Instrument.
Vorgeblich geht es Muybridge um das Freilegen des Essenziellen: Um Muskulatur und Bewegung zeigen zu können, entkleidet er den Körper und isoliert ihn vor einem kahlen Hintergrund oder einem Messgitter. Solche objektivierenden Maßnahmen können nicht verhindern, dass die wissenschaftliche Fotografie sich in der Repräsentation des nackten weiblichen Körpers dennoch mit dem Problem der sexuellen Differenz konfrontiert sieht. Sie versucht, es mit den im Entstehen begriffenen Formen der Narration und der Mise-en-scène in den Griff zu bekommen: So tauchen - bei hochgradig stilisierter Dekoration und fast völliger Aussparung von Kleidung in allen Bildern - in den Studien des weiblichen Körpers Techniken der Ikonografisierung und Phantasmatisierung auf, die es bei der Darstellung von Männerkörpern nicht gibt.
Das beginnt damit, dass Frauenkörper vorzugsweise in Bewegungsabläufen gezeigt werden, die für eher weibliche Kontexte stehen: "Gehen" statt "Laufen"; "Hinlegen und Aufheben" statt "Werfen und Fangen"; dazu die vergleichsweise passiven Haltungen "Stehen", "Sitzen", "Knien" in vielen Variationen. Werden Männer und Frauen bei denselben Bewegungsabläufen gezeigt, so sind die Bilder von Frauen durch das Hinzufügen von scheinbar überflüssigen Details gekennzeichnet: die (unerklärliche, etwas scheue) Hand am Mund, die der Figur etwas Rätselhaftes gibt; der Griff an den Busen, damit dieser sich beim Gehen nicht allzu stark bewegt (den entsprechende Griff an die männlichen Genitalien gibt es nicht).
Solche Inszenierungen diskreditieren die Vorstellung von einem naturgemäß gegebenen Körper und einer autonomen Sexualität, die unabhängig von Diskursen existieren. Die Steigerung, die der Körper mit der Erfindung des Kinos erfährt, ist augenfällig: Von nun an wird die Entfaltung der Sexualität an das Kino gebunden sein.
Die im Aufklärungs- und Sittenfilm aktualisierte Variante in diesem Spektrum ist die Form, in der sich Marginalisierungs- und Abstiegsängste mit dem Einschreibmedium Frauenkörper verbinden. Es ist auffallend, dass der Aufklärungs- und Sittenfilm bei der Erfindung von Ikonen der Bedrohung geradezu überbordet. Ebenso verräterisch ist der äußerst kreative Einsatz der weiblichen Garderobe, dem Evelyn Hampicke in ihrem Beitrag nachgeht. Ob ausgezogen wie bei Muybridge oder angezogen wie im Weimarer Sittenfilm - der Status quo der neuen Gesellschaft manifestiert sich am Körper der Frauen.
Der Versuch zur Wiederherstellung patriarchaler Überlegenheit zeigt sich auch an einem filmästhetischen Detail. Die "Unheimlichkeit des Blicks", die den Charme und die Qualität des Films der 10er Jahre ausmachte, sucht man hier vergebens.10 An seine Stelle tritt immer deutlicher die Tendenz zur Unsichtbarkeit des kinematografischen Apparats - Indiz dafür, dass das Gefühl verlorengegangener Macht zumindest im Kino zu kompensiert werden soll.

Hygiene und Gesundheit

Die Diskurse über Hygiene und Gesundheit in der Weimarer Republik ähneln stark jenen in anderen gesellschaftlichen Bereichen: An die Naturwissenschaften (biologistische Erklärungen von kulturellem Verhalten) und an wirtschaftliche Rationalisierungsstrategien (Taylorismus) angelehnt, sind sie bewusst um Exaktheit und wissenschaftliche Sprache bemüht. Die Inhalte sind dabei meist relativ alt, wobei die Angst vor Vergreisung und Überalterung der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt und ein "gesunder Volkskörper", den es zu erhalten gilt, beschworen wird. In der Weimarer Republik bestand noch der Zukunfts- und Fortschrittsglaube, dass sich mithilfe der Wissenschaft alle menschlichen Probleme lösen lassen würden, weshalb auch Psychoanalyse oder Marxismus im Gewand einer exakten Wissenschaft daherkamen.11 Diese Theorien, die wissenschaftliche und exakte Antworten auf alle Menschheitsprobleme versprachen und die quer durch die politischen Lager vertreten wurden, bildeten den Boden, auf dem die Nazi-Eugenik nur zu gut gedeihen konnte. Jedoch darf man der Versuchung nicht erliegen, alle vor 1933 getroffenen Äußerungen retrospektiv zu lesen: "Die großen Lösungen des 19. Jahrhunderts: Erziehen, Heilen, Ordnen und Versorgen hatten sich zunehmend aufgrund der Unvollkommenheit des ›Menschenmaterials‹ als enttäuschend erwiesen. Was lag näher, als die Unangleichbarkeit der Menschen durch Rassentheorie, Erbdiagnose und Züchtungspraxis zu beseitigen? Längst nicht alle, die von totalen Endlösungen aller großen Menschheitsfragen träumten, waren Nationalsozialisten, aber sie schufen ein Erwartungsniveau, auf das sich die staatlich geförderte Rassenpolitik seit 1933 einlassen konnte"12.
Natürlich lassen sich viele Filme mit dem Datum 1933 im Kopf lesen, denn nicht wenige der aus der Sozialhygiene stammenden Diskurse endeten in der nationalsozialistischen Ideologie; so ist WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT kaum etwas anderes als eine Wehrertüchtigungsübung und bestimmte Einzelbiografien deuten in diese Richtung: Eberhard Froweins Weg führte von FRUCHTBARKEIT zur Buch-Mitarbeit bei ICH KLAGE AN. Jedoch bleibt hier die drängende Frage, inwieweit retrospektiv alles, was über Begriffe wie "gesunder Volkskörper" oder andere Diskursfelder daherkommt, nur noch im Kontext der nationalsozialistischen Rassentheorie gelesen werden kann. Auch liberale Wissenschaftler, die biografisch über jeden Nazi-Verdacht erhaben sind (Emigration, Widerstand), operierten in den 20er Jahren ebenfalls mit Konzepten wie "der Gesundheit des Erbguts des Volkes". Alle diese Äußerungen von vornherein mit dem Nazi-Stempel zu versehen, wäre nur eine andere Form des Kracauer-Reflexes, der alles auf 1933 hin interpretiert.13
Tim Gallwitz und Olaf Dohrmann liefern in ihren Einzelanalysen eine Kritik an politisch progressiv anmutenden Aufklärungsfilmen der späten Weimarer Republik. Sie zeigen detailliert auf, in welchem diskursiven Kontext sich diese Filme bewegten, jedoch auch den Preis, den sie für ihre explizite politische Botschaft zahlten - Verleugnung von Homosexualität und ein "Dampfkesselmodell" der Triebdynamik im Fall von GESCHLECHT IN FESSELN, Frauenopfer und Vermutterung im Fall von CYANKALI.

Zensur und Kontrolle: Diskursüberwachung

Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Einführung einer Pflichtzensur mit der Konsolidierung des Weimarer Staates zusammenfällt. Nach dem gescheiterten Kapp-Putsch (13.-17.3.1920) zeigte sich in der gewaltsamen Zerschlagung der "Roten Ruhrarmee" durch Freikorps und Reichswehr unter der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) bereits die reaktionäre Dynamik der Staatslenker, die auf konservative bis rechtsradikale Kreise zurückgriffen, um die Selbstorganisation der Räte gewaltsam zu zerschlagen. Das zur gleichen Zeit in Kraft gesetzte "Lichtspielgesetz" lässt sich auch in diesem Kontext der Machtkonsolidierung von konservativen Kreisen sehen.
In diesem Zusammenhang zeigt Eva Sturm, wie der Diskurs um die Wiedereinführung der Zensur thematisch und personell an die Kinodebatten der 10er Jahre anschließt. Dass Fragen der Filmzensur im Bevölkerungsausschuss diskutiert wurden, verdeutlicht einmal mehr, in welche Zusammenhänge das Kino gerückt wurde: Es ging nicht um Kunst oder Kultur, sondern um Fragen der Volksmoral und Volksgesundheit. Dies machen auch viele Filme deutlich, die - Ulf Schmidt berichtet davon - Sexualverhalten und Hygiene keineswegs als Probleme der Privatsphäre ansehen, sondern dieses Thema ausdrücklich zu einem öffentlichen erklären.14 Darüber hinaus ist die Kinodebatte in ihrer Bedeutung für das Kino der Weimarer Republik unterschätzt worden - auch wenn mehrere Textsammlungen dazu vorliegen.15 Scheinbar in der Wilhelminischen Zeit verankert, sind nicht nur ihre Protagonisten in biografischer Kontinuität abermals an einem wichtigen öffentlichen Diskurs beteiligt, sondern auch Argumentationsfiguren wiederholen sich.
Dass diese Verformelung älter ist und auf Literatur aus dem Kaiserreich zurückgeht, weist Dietmar Jazbinsek anhand der Gruppe von Autoren, die er in seinem Beitrag beschreibt, nach. Sie besaßen ein Arsenal an Motiven, Figuren und Strategien aus ihrer vielfältigen publizistischen Arbeit, auf das sie zurückgreifen konnten, zudem waren sie zum Teil bereits im Kontext der Kinodebatte publizistisch aktiv. Ein sinnfälliges Beispiel hierfür ist die Zuschreibung von Prostitution auf stadtgeografisch klar umrissene Bezirke. Dies beinhaltet eine Festlegung einer "no go"-Zone für das bürgerliche Subjekt und die Eingrenzung des/der Anderen räumlich in einen bestimmten Distrikt. Im Aufklärungs- und Sittenfilm etablierten sich recht schnell eine Anzahl von Standardtropen. Neben den gerade genannten Chiffren finden sich zahlreich die Unschuld vom Lande, der verführerisch skrupellose Adelige, der leichtsinnige Student (von DIRNENTRAGÖDIE bis FEIND IM BLUT), der lüsterne Verführer.
Der Aufklärungs- und Sittenfilm zeichnet sich im Spektrum der filmischen Thematisierung von Sexualität dadurch aus, dass er etwas verspricht, was bis dato nicht erlaubt war (und die Forschung - indem sie seine Existenz auf die Abwesenheit von Zensur zurückführt - pflichtet ihm bei). Dabei ist zu bedenken, dass auch die "zensurlose Zeit" nicht ohne Zensur war. Nach wie vor konnte jede örtliche Polizeistelle jeden Film aus dem Verkehr ziehen, der nach persönlichem Geschlechts- und Moralempfinden die sogenannte öffentliche Ordnung gefährdete. Ohnehin unterwarfen sich jene Produktionsfirmen, die sich als seriös und etabliert betrachteten, freiwillig der Weiterbestehenden berliner Prüfstelle. Rechtsunsicherheit - das wird auch hierin deutlich - ist für eine kapitalistisch arbeitende Filmindustrie kritischer als eine konstant und konsistent arbeitende zentrale Zensurstelle.
Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, Zensur als die blanke totalitäre Macht zu begreifen. Foucault macht dagegen deutlich, dass die Machtregulierung in einer Gesellschaft über nicht-personalisierte Diskurse geregelt wird; was gesellschaftlich erwünscht und darstellbar ist, was unaussprechlich und folglich aus dem Diskurs ausgeschlossen bleiben soll. Der so verstandene Diskurs ist eine soziale Regulierungsinstanz, die auf einen Konsens angewiesen ist. Dieses Modell scheint in komplettem Gegensatz zu einer totalitär gedachten Zensur zu stehen. Nun gibt es aber auch bei Foucault die Vorstellung einer "Diskurspolizei". Zensureinrichtungen kann man sich dementsprechend als materialisierte Diskurspolizisten vorstellen.16
Damit fällt der Zensur nicht die Rolle zu, in eine sonst freie Kommunikation einzugreifen, sondern sie vermittelt zwischen verschiedenen Interessengruppen der Gesellschaft, die in verschiedener Form an einem gesellschaftlichen Diskurs beteiligt sind. Zensur ist also eine Institution, die einen gesellschaftlichen Konsens testen muss und durch Erfahrung schließlich zu dessen genauer Kenntnis gelangt. Um präzise zu bestimmen, wo die Grenzen eines solchen Konsenses verlaufen, könnte man sich das zensierte Material ansehen. Sehr viel spannender aber ist die Frage, was denn tatsächlich in den Filmen stattfindet, gegen die die Zensur nicht eingeschritten ist, um damit darauf zu verweisen, dass es offenkundig eine Art Bündnis zwischen Zensur und Filmschaffenden gegeben haben muss, ein Bündnis, das nicht in konkreten Absprachen, sondern in einer Art stillschweigender gesellschaftlicher und ästhetischer Übereinkunft besteht. Diese betrifft die Mittel, mit deren Hilfe ein an sich verbotener Gegenstand tolerabel wird. Diese Übereinkunft muss gesucht werden auf der Ebene von ästhetischen Strategien. Unsere Frage muss also lauten: Wie muss ein Stoff diskursiviert werden, um nicht gegen den Zensur-Konsens zu verstoßen. Für den Film können wir diese Frage sogar noch konkreter stellen: Mithilfe welcher Strategien der Ikonografisierung von Bildinhalten und welcher Muster der Narrativierung wird auch konfliktreiches Material öffentlich darstellbar?
So lässt sich die Zensur auch in ein alternatives Paradigma einordnen, das nicht eine fortschreitende ästhetische Entwicklung der Filmkunst oder -sprache konstruiert17, sondern die Verschiebung der Kontrolle über alle Aspekte der Filmrezeption vom Aufführungsbereich - also den Kinobesitzern - zum Produktionsbereich - also den großen Filmgesellschaften, die zu dieser Zeit entstanden - feststellt. Wichtige Schritte dieser Entwicklung, die von der Jahrhundertwende bis in die 30er Jahre reicht, sind der Übergang von ambulanten Wanderkinos zu ortsfesten Spielstätten, das Aufkommen des Verleihwesens, die Standardisierung der Filmprogramme, der Übergang zum (Lang-)Spielfilm, die Einführung einer zentralen Zensur und der Tonfilm. Im Laufe von 30 Jahren gelang es der Produktionsseite - ursprünglich produzierten häufig Kinobesitzer, dann Verleiher, die selber für ihren Nachschub sorgen wollten, um der Nachfrage ihres Publikums nachzukommen - die vollständige Kontrolle über die Filmvorführung zu gewinnen.
Zunächst waren Filme eher auf lokaler Ebene diskutiert (und gegebenenfalls zensiert) worden18, nun wurde die Reichweite von Filmen anerkannt. Eine zentrale Zensur für ein gesamtes Land bedeutet auch eine Anerkennung von modernen Produktions- und Vertriebstechniken; mit anderen Worten: Film wurde auch von der Obrigkeit als Massenmedium erkannt. Die Entwicklung führt also auf einer Reihe von Ebenen in diesen Jahren von einer eher lokalen und regionalen Organisation zu einer nationalen Zentralisierung. Die Homogenisierung des Filmangebots, der Vorführungspraktiken und der Zensur sowie die Vereinheitlichung der Rezeption - aus dem (unkalkulierbaren) Publikum wird der (isolierte) Zuschauer - wurde durch das kurze Aufflackern der Aufklärungsfilme beschleunigt. Die Aufklärungsfilme sind also weniger die Ursache, die zum Unglück der zentralen Zensur führt, als eher der Katalysator, der diese - in Teilen der Industrie durchaus positiv antizipierte - Entwicklung vorantreibt.
Warum hat sich dann die deutsche Filmindustrie keine Selbstzensur gegeben wie dies das erfolgreiche Vorbild der Vereinigten Staaten nahelegt? Zum einen fehlte vermutlich in Deutschland eine stabile Wirtschaftsstruktur, auf die sich aufbauen ließ. Die Ufa war noch in der Gründung begriffen, die anderen Produktionsfirmen waren größtenteils schwach und kurzlebig. Nun darf aber auch nicht vergessen werden, dass für die wirtschaftlich Verantwortlichen in der Filmindustrie (möglicherweise auch im Gegensatz zu den künstlerischen Leitern) eine zentralisierte Zensur besser ist als eine Situation, in der sich im Prinzip jederzeit an jedem Ort Probleme mit lokalen Zensurinstitutionen ergeben können. Eine zentrale und stabile Institution mit personeller Kontinuität ist berechenbarer als ein schwelender Konflikt, der ständig an verschiedenen Orten wieder aufflammt - was für die Investition großer Summen Geldes wie in der Filmindustrie von großer Bedeutung ist. Für die Filmindustrie gilt daher, dass eine zentrale Zensurbehörde zwar ein Übel war, aber mit Sicherheit ein geringeres als Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene, die um einiges schwieriger zu kontrollieren waren und darüber hinaus zu unterschiedlichen Fassungen des gleichen Films führten, die in verschiedenen Teilen des Landes zirkulierten.
Die Toleranz und Offenheit, die sich in diesen Jahren zeigte, war jederzeit widerrufbar (auch in Einzelbereichen) und auch als Wirtschaftsfaktor interessant - Berlins Mythos als Eldorado der Sexindustrie und des Hedonismus rührt aus dieser Tatsache. Was also herrschte, war eine nicht festgeschriebene Freiheit in der öffentlichen Wahrnehmung, keineswegs eine der Gesetzbücher. Dies gilt auch für das Zensurgesetz, das in seiner völligen Offenheit einerseits und seiner detaillierten Ausformulierung andererseits alle Möglichkeiten offen ließ; nicht zuletzt die Nazis profitierten von einem Gesetz, an dem sie wenig ändern mussten, sondern das nur einer anderen Auslegung bedurfte.

Titel und Werbung: Paratextuelle Attraktionen

Die Filmhistoriografie hat sich in der Einschätzung der Aufklärungs- und Sittenfilme (die zugegebenermaßen schwer zugänglich sind) allzu bereitwillig mit Titeln und Plakaten zufrieden gegeben. Ein sorgfältigerer Blick verdeutlicht jedoch, dass sich bei diesen Filmen gerade Vorinformationen wie Titel, Plakate und Werbung von den Filmen selbst unterscheiden. Wir können das unter anderem rekonstruieren über die Titel, die einen Erwartungshorizont zwar nicht explizit aussprechen, aber doch andeuten. Es sind Titel, die mit der Vorstellung einer Grenze spielen, hinter der das Verlockend-Verbotene liegt, Titel, die eine Grenzverletzung versprechen. An diesen Titeln lässt sich - da sie ja die Zensur passiert haben - ablesen, wo der gesellschaftliche Konsens noch besteht und wo er möglicherweise aufhört. Sie markieren nicht die Grenze selbst, sondern ein diskursives Niemandsland, über das sich die Gesellschaft noch nicht explizit verständigt hat.
In Anlehnung an den der Kulturwissenschaft entlehnten Begriff der Paratexte, der jene Elemente eines kulturellen Gegenstands (Buch, Film, Theaterstück etc.) beschreibt, die das Publikum jenseits des Objekts informieren und zum Konsum anregen sollen (Werbung, Buchumschlag, Rezension, Plakat etc.) sowie in Anknüpfung an Tom Gunnings Beschreibung des frühen Kinos als "Kino der Attraktionen"19 können wir den Aufklärungs- und Sittenfilm als ein "Kino der paratextuellen Attraktionen" beschreiben. Damit ist zweierlei gewonnen: Zum einen beschreibt Gunning nicht nur eine Präsentationsform der Filme, die kein abgeschlossenes narratives Universum erschaffen, bei dem der Zuschauer von außen Zeuge einer Handlungsabfolge ist, sondern eine direkt zur Kamera und zum Publikum inszenierte Reihung von Attraktionen. Es geht um ein gänzlich anderes Verhältnis von Medium und Publikum, eines, das weniger auf individuelle Distanz und vereinzelnde Kontemplation abzielt wie in der klassischen bürgerlichen Kunstbetrachtung (und auch später wieder im klassischen Hollywoodfilm), sondern auf eine direkte Ansprache nicht so sehr des einzelnen versunkenen Zuschauers, sondern des Publikums als Rezeptionskollektiv und die Involvierung des Zuschauerraums in den filmischen Raum. Die Adressierung des Publikums ist also nicht über Identifikation oder mentale Einbindung in eine Handlung vermittelt, sondern tritt direkt über Schauwerte hervor. Indem das Element der Paratexte hinzutritt, begibt sich dieses Attraktionskino zum anderen aus dem Zuschauerraum hinaus in den öffentlichen Raum der Straßen und Cafés, der Medien und Diskurse. Im frühen Kino der Attraktionen findet die direkte Kommunikation zwischen Film und Publikum im Kinosaal statt, hier wird sie vor die Kinos in eine großstädtische Öffentlichkeit getragen.
Ein Beispiel zur Erläuterung: Der zweite Teil von DER WEG, DER ZUR VERDAMMNIS FÜHRT kam 1919 mit dem Untertitel HYÄNEN DER LUST ins Kino. Das semantische Potenzial dieser Titel ist ebenso reich wie vage und bietet Begriffe, deren Verbindung jedoch unklar bleibt. Über "Verdammnis" wird ein religiöses Feld eröffnet, über "Hyänen" etwas Animalisches, und "Lust" deutet explizit auf Sexualität. Wie diese Begriffe jedoch zusammenhängen, bleibt völlig undeutlich. Das Plakat fügt noch weitere Ebenen hinzu. Neben kunsthistorischen Anleihen bei Manets Olympia20 gibt das Motiv von Josef Fenneker aber auch dem ungeschulten Betrachter verschiedene Felder vor: Die lasziv hingestreckte Frau, knapp bekleidet und mit tiefem Dekolletee, konnotiert Sexualität, während ein Skelett (dieses ersetzt die Dienerin mit Blumenstrauß in Manets Gemälde) sich von rechts unten nähert und bereits die Knochenhand auf ihre linke Schulter gelegt hat. Ihre Pose und Miene könnten ebenso auf Hingabe wie auf Furcht verweisen, klar wird nur der Zusammenhang von Sexualität und Tod, verstärkt durch die zwei Sektgläser in der linken unteren Ecke, die die Themen Alkohol bzw. Drogen zu dieser bereits kunterbunten semantischen Mixtur hinzufügen. Ob sich die Frau bereitwillig der tödlichen Mischung aus Drogen und Sexualität hingibt, ob sie plötzlich erschreckt erkennt, dass diese sie an ihr Ende gebracht haben, oder sich wolllüstig dem Tod in die Arme wirft - es wird nicht deutlich und, vor allem: es soll gar nicht deutlich werden. Was jedoch so bemerkenswert an dieser Kombination aus Titel, Bild, Verweis und der Eröffnung von semantischen Feldern ist, ist die Tatsache, dass dem Betrachter, also dem prospektiven Publikum des Films, ein Angebot gemacht wird, ohne dies in irgendeiner Weise einzugrenzen oder zu spezifizieren. Die "Kunst" dieser Paratexte besteht darin, dass gesellschaftlich tabuisierte Bereiche angesprochen werden (Sexualität, Drogen), jedoch ohne damit Grenzen zu übertreten, die nicht überquert werden dürfen. Die Tabuverletzung findet also allein im Kopf des Betrachters statt. Diese Paratexte sind explizit und verschwiegen zugleich, sie machen vielleicht den eigentlichen Reiz der Filme aus.21
So lässt sich behaupten, dass die Filme der so genannten "zensurlosen Zeit", je näher man sie betrachtet, ebenso zu "Weimar" wie zu "Wilhelm" gehören; ihr pseudo-sensationeller Charakter äußert sich in erster Linie in Titeln und Plakaten - also in Oberflächenreizen. Die Filme nutzen die neue Freiheit vor allem dazu, Themen anzusprechen (Prostitution, Abtreibung, Ehescheidung etc.), die - gesellschaftlich betrachtet - keineswegs neu waren, jedoch jetzt in etwas freierer und liberalerer Form auf die Leinwand gebracht werden konnten. Doch deutet sich in ihnen wenig von den "Roaring Twenties" oder "Goldenen 20er Jahren" an (schon diese Etiketten sagen viel über die retrospektive Einordnung dieser legendenreichen Epoche), sondern es manifestiert sich ein sehr verklemmter Geist, der plötzlich neue Freiheiten nutzen will, aber nicht so recht weiß wie. Hier ist Richard Oswald eher die Ausnahme der Regel, da er sich offenbar sehr bewusst darüber war, wo genau die Grenzen verliefen, wie er Diskussionen anstoßen konnte, ohne der Zensur zum Opfer zu fallen. An Oswalds Filmen kann man exemplarisch studieren, auf welche Weise kontroverse Themen wie Homosexualität, Mutterschaft oder Prostitution darstellbar waren, wirtschaftlichen Erfolg einbrachten, ohne der Zensur zum Opfer zu fallen. Im Laufe der 20er Jahre verschob sich der Schwerpunkt von Oswalds Output immer stärker von Sittenschilderungen zu historischen Stoffen und Operetten. Nicht nur an Oswalds Beispiel ließe sich die filmgeschichtliche Periodisierung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu konstruieren: Bis 1925 wäre das Kino auch (nicht ausschließlich) der Kaiserzeit zuzurechnen, während danach eine Bewegung begann, die bis in die 50er Jahre reichte. Dies soll keinesfalls eine neue Trennung sein, die an die Stelle der alten treten will, sondern ein polemischer Gegenentwurf ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Wenn aber durch diese Zuordnung der Blick für Phänomene, denen die Filmgeschichtsschreibung bisher blind gegenüber stand, geöffnet und geschärft würde, so wäre schon viel gewonnen.

1) Rudolf Arnheim: Die traurige Zukunft des Films. In: Die Weltbühne, Nr. 37, 9.9.1930, S. 402-404; zit. nach Rudolf Arnheim: Kritiken und Aufsätze zum Film. (Hg. von Helmut H. Diederichs). Frankfurt/M.: Fischer 1979, S. 17-19; hier S. 17. [zurück zum Text]
2) Es gibt jedoch differenzierte Gegenpositionen wie von Klaus Kreimeier, der von einer retrospektiv hergestellten »Kaffeehaus-Perspektive« auf die revolutionären Ereignisse spricht: »Das populäre Bild vom kulturrevolutionären Tollhaus Berlin unterschlägt die deprimierende Verfassung der Nachkriegsgesellschaft, den bedrohlichen wirtschaftlichen Niedergang – und den Verfall des ›Faktors Mensch‹ als Produktivkraft«. K. K.: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München: Hanser 1992, S. 62. [zurück zum Text]
3) Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass der deutsche Markt zwischen 1916 und 1921 durch eine Importsperre geschlossen war und sich in relativer Isolation entwickelte, d.h. es gab zumindest keinen regelmäßigen Kontakt mit der ausländischen Produktion, weder was die (meisten) Filmschaffenden noch was das Publikum anging. [zurück zum Text]
4) Im Anhang findet sich eine (keineswegs vollständige, doch repräsentative) Auswahl dieser Filme. [zurück zum Text]
5) Ein Autor aus der Gruppe der »Kinometerdichter«, die Dietmar Jazbinsek vorstellt, weist eine ähnlich paradoxe massenkulturelle Schizophrenie auf: Victor Noack war vor dem Ersten Weltkrieg Aktivist der Kinoreformbewegung und gehörte später zu den gefragtesten Drehbuchautoren. [zurück zum Text]
6) Thierry Lefebvre zeichnet in seinem Beitrag die Stationen nach, über die sich in Frankreich (wo die Verhältnisse in Politik, Gesellschaft und Filmindustrie ruhiger sind als in Deutschland) eine Volksgesundheits-Bewegung das neue Medium aneignet, um ihre Botschaft zunächst im Dokumentar-, später im Spielfilm zu propagieren. Dabei zeigt Lefebvre, wie der in der Phase des Medienwechsels unvermeidliche vortragende Medizinalrat allmählich zu einem feststehenden Topos des Aufklärungsfilms wird und so auch in den Spielfilm einwandert, der offenbar nicht in der Lage ist, hierfür eine eigene Erzählstrategie, geschweige denn eine eigene Ikonografie auszubilden. [zurück zum Text]
7) Siehe die umfangreiche Materialsammlung von Magnus Hirschfeld, Andreas Gaspar (Hg.): Sittengeschichte des Weltkrieges. Leipzig: Verlag für Sozialwissenschaft 1930. [zurück zum Text]
8) Klaus Kreimeier: Aufklärung, Kommerzialismus und Demokratie oder: Der Bankrott des deutschen Mannes. In: Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Red.): Richard Oswald. München: edition text + kritik 1990, S. 9-18; hier S. 12. [zurück zum Text]
9) Linda Williams: Film Body: An Implantation of Perversions. In: Ciné-Tracts, Nr. 12, Winter 1981, S. 19-35. Wiederabgedruckt in: Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. New York: Columbia University Press 1986, S. 507-534. [zurück zum Text]
10) Diagnostiziert von Heide Schlüpmann: Die Unheimlichkeit des Blicks. Basel / Frankfurt: Stroemfeld / Roter Stern 1990. Dass diese »Unheimlichkeit« sich, wenn auch marginalisiert, vergessen und unterdrückt, doch in die 20er Jahre retten konnte, macht sie in ihrem Beitrag an Franz Hofer, einem wichtigen Vertreter des Wilhelminischen Kinos, deutlich. Damit wird auch der filmästhetische Spielraum offenbar, der im Weimarer Kino noch bestand. Dass in den Vereinigten Staaten die Situation eine gänzlich andere war, erhellt Ursula von Keitz durch einen Vergleich der unterschiedlichen Erzählstrategien der deutschen und der US-amerikanischen Fassung von KREUZZUG DES WEIBES. [zurück zum Text]
11) Daher ist der Ingenieur eine Schlüsselfigur des Films dieser Zeit: »Der Ingenieur nimmt deshalb eine zentrale Stelle ein, weil er zwischen zwei spiegelbildlichen Gegensätzen vermitteln muß: dem Klassendiskurs […] und dem Diskurs über Wissenschaft und Technik […] Der Ingenieur ist dafür zuständig, rein Geistiges (immaterielle Gedanken) zu materialisieren und rein Materielles (unbelebte Dinge) zu vergeistigen.« Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig. Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 296. Hieran anknüpfend könnte man über die Bedeutung des Ingenieurs in den Aufklärungs- und Sittenfilmen spekulieren – der tragische Held in GESCHLECHT IN FESSELN oder das positive Leitbild in KEIMENDES LEBEN. [zurück zum Text]
12) Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt: Suhrkamp 1987. [zurück zum Text]
13) Siehe Malte Hagener, Jan Hans: Musikfilm und Modernisierung. In: M. H., J. H. (Red.): Als die Filme singen lernten. München: edition text + kritik 1999, S. 7-21. [zurück zum Text]
14) Thierry Lefebvre macht deutlich, dass dies auch in Frankreich nicht anders ist. [zurück zum Text]
15) Siehe Ludwig Greve, Margot Pehle, Heidi Westhoff (Red.): Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm. Marbach: Schiller-Nationalmuseum 1976; Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film, 1909–1929. München: dtv 1978; Jörg Schweinitz: Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium, 1909–1913. Leipzig: Reclam 1992. [zurück zum Text]
16) Vgl. insbesondere Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. [zurück zum Text]
17) Der »locus classicus« dieser darwinistischen Betrachtung der formalen Gestaltungsweise von Filmen, die sich in zahlreichen Standardwerken findet, ist Barry Salt: Film Style and Technology. History and Analysis. London: Starwood 1992. [zurück zum Text]
18) Die frühe Praxis der Filmzensur untersucht Gabriele Kilchenstein: Frühe Filmzensur in Deutschland. München: Diskurs Verlag 1997. [zurück zum Text]
19) Die entscheidenden Essays hierzu sind wieder abgedruckt in Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema. Space, Frame, Narrative. London: BFI 1990. Siehe dort vor allem: The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avantgarde, S. 56-62. [zurück zum Text]
20) Dieses Bild ist selbst wieder einem klassischen Vorbild abgeschaut, Tizians Venus von Urbino. Es ließen sich weitere Dreisprünge von der klassischen Malerei über die klassische Moderne bis in die Popularkultur aufzeigen. [zurück zum Text]
21) Die inoffiziellen Erben dieser Schlagzeilenmacher sitzen heutzutage in den (privaten) TV-Anstalten und sind verantwortlich für Titel wie BEICHTSTUHL DER BEGIERDE, die mit der gleichen Logik operieren – viel andeuten und versprechen, aber nichts explizit aussprechen. [zurück zum Text]



Materialien zum gleichnamigen filmhistorischen Kongreß (1999)
Andere Bände der Reihe CineGraph Buch