Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

DIDA IBSENS GESCHICHTE (1918)

Dietrich Kuhlbrodt


Oswalds brillantes Sadomelodram von 1918 profitierte von der sogenannten zensurlosen Zeit. Eine Mätresse verläßt den ätherischen Herrn, der sie aushält, und verfällt einem Sadisten, der sie peitscht. Gespielt wird dieses Dreipersonenstück von Anita Berber, der skandalösen Nackttänzerin jener Zeit, von Conrad Veidt und von Werner Krauß, mithin von denen, die als Oswald-Ensemble berühmt wurden. Anita Berber und Conrad Veidt hatten im Jahr darauf Hauptrollen in Oswalds ANDERS ALS DIE ANDERN. Veidt spielte noch bis in Oswalds Emigration mit - 1938 in TEMPETE SUR L'ASIE. Krauß brachte es auf dreizehn Rollen in Oswald-Filmen.

DIDA IBSENS GESCHICHTE ist ein Schauspielerfilm, gespielt von Schauspielern, die sich mit dem größten Vergnügen von Oswald führen ließen. Oswalds Kunst der Schauspielerführung wurde offenbar. Die Kamera guckt in einen Bühnenkasten, das Interesse konzentriert sich auf das Spiel der Komödianten, der Plot und mit ihm die Moral der Geschichte tritt in die Kulissen. Nicht die »erotischen Abwegigkeiten«, die die zeitgenössische Kritik konstatierte, sondern die komödiantische Leichtigkeit, mit der sie zur Schau gestellt wurde, machte den Film zum Skandal (und zum Publikumserfolg) machte. Da nicht das Was, sondern das Wie von DIDA IBSENS GESCHICHTE interessiert, tut der Film auch heute - als Fragment von etwa 40 Minuten Spieldauer, rund der Hälfte des Originals - seine Wirkung. Wir erfahren nicht, daß Dida Ibsen schließlich zum Vater ihres unehelichen Kindes zurückkehrt, daß dieser sich erschießt, daß sie sich ins Elternhaus zurückflüchtet, daß die Eltern einen Lernprozeß beginnen und so weiter. Das heißt, wir erfahren nichts von dem, auf das es nicht ankommt.

Dida Ibsens Geschichte: Anita Berber, Werner Krauß

Wohl aber ist eine Szene enthalten, die für den Plot völlig überflüssig ist, aber gleichwohl zentrale Bedeutung hat. Philipp Galen, der Schlangenbändiger und Tropenfahrer (Werner Krauß), hat soeben Dida Ibsen gebändigt und ins Boudoir, den goldenen Käfig, gesperrt. Noch einmal streckt er die Beine, die in schwarzen Schaftstiefeln stecken. Er wickelt sich eine große Schlange so kokett um den Hals, als ob sie ein Pelz wäre. Noch einmal wippt er mit der Gerte, die er immer in der Hand hat, Dida Ibsen zu dressieren. Dann entschlummert er befriedigt. Es erscheint Maria Forescu, die Dienerin, die ihm das Peitschinstrument neckisch entwindet und ihm ihrerseits sadistisch droht. Und Galen, der Brutale, erprobt jetzt seinerseits die masochistische Rolle.

In dieser Szene entgleist die - narrative - Dramaturgie. Das unverhohlene Vergnügen, mit der sie ausgespielt wird, verrät jedoch überdeutlich, daß die Praktiken in DIDA IBSENS GESCHICHTE Sache der Schauspieler und ihres Regisseurs sind: Praktiken der Befreiung von moralischem Rigorismus und sozialer Vorverurteilung. 1918 ist das Jahr der Revolution.

Zehn Jahre später hat Richard Oswald sich das Bändigen und Dressieren auch verbal zu eigen gemacht, spielerisch verkleidet. In dem Kompendium »Filmkünstler. Wir über uns selbst« vergleicht er den Filmregisseur mit dem Löwenbändiger: »Zuckerbrot und Peitsche sind die wirksamsten Dressurmittel«. Und: »Im Atelier darf nicht mehr debattiert werden.« Und: »Der Schauspieler muß sich dem Regisseur, der natürlich Regisseur sein muß, unbedingt unterordnen«. 1928.

Oswald fand nach DIDA IBSENS GESCHICHTE seinen ständigen Kritiker: Willy Haas, den jungen Kritikerstar der 20er Jahre, einen, der das Wie der Oswald-Filme goutierte und der den Filmplot als das am wenigsten geeignete Kriterium sah, einen Film zu beurteilen. In den meisten Kritiken jener Zeit kommt er erst ganz unter anderem, nach der Erörterung von Ausstattung und Requisite, im letzten Absatz darauf zu sprechen. Weshalb sich, nebenbei gesagt, die Frage stellt, ob wir nicht die ideologischen Scheuklappen des narrativen Tonfilms angelegt haben, wenn wir die stummen Filme der 20er Jahre mittels Wiedergabe eines mehr oder minder unsäglichen Plots beschreiben. Haas hat damals Theorien über die dem Filmmedium angemessene »Fachkritik« gegen die medienfremde (narrative) »literarische Kritik« entwickelt - Theorien, die dringlichst der Fortführung und Weiterentwicklung bedürfen.

Wenn Haas über Oswald schreibt, wird einem warm ums Herz. Man spürt, wie einer das Medium liebt und wie er Lust hat und Spaß an der Sache - und sei es an einem »Pallawatsch« wie dem Film HALBSEIDE: »Da ist zusammengestopftes, zusammengeflicktes, zusammengelesenes Zeug (...). Schrecklich. Aber da ist auch soviel Gesundes, Gradgewachsenes, Unverlogenes - unverlogen bis zum Zynismus -, daß einem richtig wohl ums Herz wird. Alles dreht sich ums Fressen, Saufen und schöne Weiber und ums... na, Sie können sichs schon denken.« (Film-Kurier, 27.11.1925.)

Daß es sich bei DIDA IBSENS GESCHICHTE um etwas anderes drehte, als über die Gefahren »erotischer Abwegigkeiten« aufzuklären, dämmerte auch den Zeitgenossen, die sich auf Oswald, den populären Vertreter des »Aufklärungsfilms«, einzuschießen begannen. DIDA IBSENS GESCHICHTE war - so heißt der Filmtitel vollständig - »ein Finale zum Tagebuch einer Verlorenen« und damit eine Fortsetzung des im selben Jahr (1918) von Oswald inszenierten Films DAS TAGEBUCH EINER VERLORENEN, der schon durch die Wahl seines Titels das aufklärungsbedürftige Publikum seiner Zeit ansprach. Im selben Jahr war auch der vierte Teil der Oswaldschen Aufklärungsserie ES WERDE LICHT! erschienen, mit dem Zusatztitel: SÜNDIGE MÜTTER. Begonnen hatte die ES WERDE LICHT!-Serie 1916. Ein keuscher Junggeselle erscheint, der dann doch der Versuchung erliegt und daher mit Syphilis angesteckt wird. Oswald, der seine Serie als »sozialhygienisches Werk« vorstellte, setzte damit die Tradition der zuvor kursierenden »Volksbelehrungsfilme« fort. Diese waren auf zunehmendes Desinteresse des Publikums gestoßen, so daß die Initiatorin, die »Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«, das aufklärerische Heil in der Dramatisierung des Stoffs und im Schauspiel Oswaldscher Prägung sah, während die Belehrungsfilme im medizinischen Filmarchiv der Kulturabteilung der Ufa landeten.

Die Vereinnahmung der Volksbelehrung durch die Filmwirtschaft stieß seit 1917 auf das äußerste Mißtrauen und auf die Empörung der für die Volksbelehrung zuständigen Organe. Eine von Polizeiärzten, Reichstagsabgeordneten, Professoren und einschlägigen Akademikern geführte Kampagne richtete sich gegen Oswald als Propagandisten des Aufklärungsfilms - eine Kampagne, die deutlich aufklärungs-, frauen- und judenfeindliche Untertöne hatte. »Aufkläricht«, schimpfte der Reichstagsabgeordnete Prof. Kuckhoff. »Für hysterische Weiber«, befand Curt Moreck in der »Sittengeschichte des Kinos» (1926). Für »rassefremde Besucher«, beobachtete ein Filmjournalist.

Die Wirkung von DIDA IBSENS GESCHICHTE läßt sich ermessen, wenn man studiert, mit welcher Empörung, aber auch mit welcher Intensität beamtete Zeitgenossen auf den Aufklärungsfilmer Oswald reagiert haben. Die Zeitung »Der Tag« (17.1.1920) öffnete ihre Spalten für Polizeiarzt a.D. Dr. med. Drews (Berlin), Mitglied des Beirats zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten im Wohlfahrtsministerium, der 1917 zusammen mit Abgeordneten der Reichs- und Landesparlamente, mit Regierungsvertretern und mit Beamten des Reichsgesundheits- und des Reichsversicherungsamts zur Premiere von ES WERDE LICHT! geladen war und einen »Animierfilm« sowie blankes »Sexualpharisäertum« vorfand. Der Reichstagsabgeordnete Kuckhoff forderte unverzüglich, »all dem Jugend vergiftenden Schund, vor allem dem neuen Unfug des Aufklärungsfilms ein Ende zu machen« (Kölnische Volkszeitung, 19.5.1918). »Für ein Zensurverbot fehlt leider die gesetzliche Grundlage.« (Sie wurde alsbald geschaffen.) Und er spricht Oswald das Mandat für Aufklärung ab, weil dieser nicht wahrhaben wolle, »daß das, was zur Geschlechtskrankheit führt, Schande und Sünde ist«, und weil er sexuelle Neugier stimuliere, statt sie, wie es »ernste Erzieher, insbesondere Eltern« tun, »klug zu zügeln«, damit sie nicht »Befriedigung auf unlauterem Wege sucht und zur Lüsternheit wird«.

In Morecks »Sittengeschichte des Kinos«, die im folgenden zitiert wird, nimmt der Regisseur von DIDA IBSENS GESCHICHTE einen hervorragenden Platz ein. Oswald wird vorgeworfen, mit seinen Filmen »wesentlich die heutige Geschlechtsmoral« zu beeinflussen (S. 207), nämlich zu den abwegigen Praktiken der handelnden Personen zu ermuntern (S. 185), zu »Brunst und Geilheit« (S. 187). Ihm wird vorgeworfen, unter dem Deckmantel des Aufklärungsfilms, »den Film auf Genitalkitzel hin zu arrangieren« (S. 188). Eine Autorität sieht in den Aufklärungsfilmen »minderwertige Machwerke von ausgesucht schamloser Spekulation auf die Sinnengier junger und alter Hysteriker mit sexualpathologischem Einschlag« - das ist die Sprache von einem Dr. Schönhuber. Ihm sekundiert einer, der Dr. Schweisheimer heißt: Aufklärungsfilme seien die »gewissenlose Reizung sexueller Lüsternheit« für die »Sensationsgier des naiven Kinobesuchers« (S. 200).

Konrad Lange schließlich, einer der bekannten Kinoreformer, beklagt, daß die Darstellung des »unerlaubten Geschlechtsverkehrs« als Aufforderung erscheine: »Gehet hin und tuet desgleichen«. Nicht nur der Aufklärungsfilm, sondern das Kinodrama als solches erscheint ihm gefährlich, weil bei ihm, wo außerdem der Saal verdunkelt sei, die Hemmungen fortfielen, da die Szenen dort »wie Natur« erschienen, während das künstlerische Bildwerk »Nachahmung« der Wirklichkeit bleibe (S. 206/207).

Die Kampagne gegen Oswalds Aufklärungsfilme richtet sich also, wie man im Fall Konrad Lange sieht, gegen das Kinodrama als solches - im Namen der »Moral aller anständigen Menschen: Man erhalte sich vor der Ehe rein« (S. 198). Diese bekommen in einer Aufführung von ANDERS ALS DIE ANDERN »einen geistigen Brechreiz«, wie eine zeitgenössische Kritik diagnostiziert (S. 190), - falls sie nicht der Gefahr »aufpeitschender Erotik« erliegen. Moreck zitiert einen Fall, über den »Die Weltbühne« am 11.9.1919 berichtet hat. Ein junges Mädchen von kaum sechzehn Jahren war durch die Vorführung eines Aufklärungsfilms dermaßen »sinnlich erregt«, daß es sich von einem männlichen Kinobesucher überreden ließ, die gewünschte Aufklärung »in natura doch viel besser als im Bilde zu suchen: sie solle nur mit ihm kommen« (S. 201).

Was tun? Dr. Schweisheimer forderte angesichts des »Zerrbildes des ehemaligen sozialhygienisch einwandfreien Aufklärungsfilms« Umkehr zum vormaligen Volksbelehrungsfilm und schlug Körperkulturfilme vor, die »für die Ertüchtigung so verdienstvoll seien« (S. 185, 203). »Der Kinematograph« schloß sich dem Programm der Umkehr an - »Die Aufklärerei ist vorbei« - und forderte, sich von den »Spezialitäten, seien es Mädchenhandel oder Perversität, Eheirrung oder Geschlechtskrankheiten« abzuwenden, denn »der Aufklärungsfilm ist ein Tendenzstück, und die Tendenz eines jeden Dramas ist letzten Endes der Sieg des Guten über das Böse, bzw. des Natürlichen über das Naturwidrige« (29.10.1919). Angesagt sei »Aufklärung über die Auswandererfrage, über die Notwendigkeit produktiver Arbeit, die Gefahren der Kohlenstreiks, über soziale und juristische, hygienische, technische Fragen usw.«.

Das war das Feld, das DIDA IBSENS GESCHICHTE vorfand. Noch im Krieg gedreht, wurde der Film (im September 1918) für die Dauer des Krieges verboten und im November 1918 gekürzt freigegeben. Die »Lichtbild-Bühne« schrieb am 14.12.1918 den apologetischen Satz: »Der Film ist sauber«.


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