Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

ANDERS ALS DIE ANDERN (1919)
Dokumente zu einer Kontroverse


Eine Erinnerung: »Während der Film lief, stand mitten in der Vorstellung ein Herr auf und rief: ,Wenn man diese Schweinerei sieht ...'. Ich stoppte sofort die Vorführung, indem ich meine Hand erhob und schrie: ,Wenn einer diesen Film als Schweinerei bezeichnet, so ist er selbst ein Schwein, Herr Professor Brunner!' Brunner war bekanntlich ein Vorbote der Nazizeit.« Das schreibt Richard Oswald am 17. Februar 1958 aus Hollywood an Veit Harlan. Harlan hatte 1957 ANDERS ALS DU UND ICH gedreht, einen Film, der sich ähnlich wie Oswalds ANDERS ALS DIE ANDERN für die Rechte der Homosexuellen einsetzte. Wegen Fragen des Titelschutzes korrespondierte Harlan mit Oswald. Und der Regisseur, der, um sein Leben zu retten, vor den Nazis in die Emigration gehen mußte, antwortet dem Regisseur, der sich mit den Verfolgern gemein gemacht hatte. Aber er macht eine Anmerkung: »Einen Satz aus Ihrem Brief kann ich nicht goutieren: zwischen einem jüdischen und einem deutschen Regisseur ist ja eigentlich kein Unterschied. Hauptsache, daß einer eine Persönlichkeit und ein anständiger Mensch ist.« Die Geschichte des Films ANDERS ALS DIE ANDERN hat Richard Oswald immer wieder eingeholt; sie hat viele Verzweigungen.

ANDERS ALS DIE ANDERN hatte am 28. Mai 1919 in Berlin Premiere. Die Szene, an die sich Oswald erinnert, hatte sich bei einer zweiten Aufführung vor geladenen Gästen zugetragen. Im Publikum saßen auch der Minister Gustav Stresemann und der Mediziner Ferdinand Sauerbruch. In einer Reihe von sogenannten Aufklärungsfilmen, die Ende der 10er und Anfang der 20er Jahre entstanden, war ANDERS ALS DIE ANDERN der erste Film, der engagiert gegen den § 175 Stellung bezog. Als wissenschaftlicher und medizinischer Berater stand Dr. Magnus Hirschfeld dem Regisseur Oswald zur Seite. Hirschfeld war Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin und Gründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees.

Der Film erhielt Zustimmung, er provozierte aber auch heftige Ablehnung. Rechtskonservative und nationalistische Kreise nutzten ihn als Anlaß, um die Wiedereinführung der Zensur zu propagieren. Unüberhörbar mischten sich in die Debatte auch antisemitische Stimmen. Hinter den Auseinandersetzungen um den Film wurde eine politische Kontroverse sichtbar.

Im »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen«, herausgegeben von Hirschfelds Wissenschaftlich-humanitärem Komitee, sind zahlreiche Kritiken zum Film abgedruckt, vor allem aber auch Zuschriften Betroffener, die man lesen kann als Dokumente einer Öffentlichkeit, die erst 1970 mit Rosa von Praunheims NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION IN DER ER LEBT wiederhergestellt wurde. Die Diskussion um ANDERS ALS DIE ANDERN wurde nicht nur in der Tagespresse geführt, sondern auch in Kulturzeitschriften. Ludwig Marcuses Aufsatz »Der Homosexualfilm« ist dafr ein Beispiel.

In seinem Brief an Harlan erinnert sich Richard Oswald weiter: »Was geschah? Eine Ovation für mich. Zehn Minuten stürmischer Applaus. Herr Brunner verließ schreiend das Lokal. Die Vorführung ging erfolgreich weiter.«

Helga Belach, Wolfgang Jacobsen


Der Homosexualfilm

Da glänzelt etwa folgendes Aufklärerische im Annoncenblatt einer berliner Zeitung: »Gibt es eine Frau, wie ich sie seit langem ersehne ... je nach Wunsch als Freundin, Hausdame meines vornehmen Haushaltes oder Gattin, treuergeben und alles zu opfern bereit ... Alleinstehender Herr sucht Freundschaft üppig schlanker, temperamentvoller, wenn möglich weicher Dame ... zwecks evtl. Heirat ... Frau sucht freundschaftlichen Verkehr mit besserer Dame ... junge gebildete Witwe von voller Figur zwecks evtl. Heirat ... älterer Herr, vermögend, sucht Anschluss an nettes, junges Paar (Dame und Herr) ... Welche ältere, gutsituierte Dame wünscht Bekanntschaft eines jungen, intelligenten, etwas schüchternen Herrn? ... Sinnlichkeit und treuergebene Liebe ist mein heissester Wunsch ... Freundschaft mit gebildetem jungen Herren (nicht über 20 Jahre) wünscht Student. Bildofferten erbeten unter ,Gastmahl` ... Wer verleiht Erotika? ...« Die Rechtfertigung des Herausgebers? Aufklärung! Schminke ab! Zeigt Euch, wie Ihr seid! (Besser schon wäre es: seid, wie Ihr Euch zeigen könnt!!) Wieso aber, Herr Herausgeber, diese abstrakten Annoncen? Wieso nicht gleich die Sehnigen oder die Weichformigen im Bilde? Da geht doch Sehen vor Sagen! Merkt Ihr immer noch nicht, Ihr Fesselbrecher, daß es mit der revolutionierenden Aufklärung von unten nichts ist! Macht lieber Aufklärung von oben! Schafft neue angepaßtere Lebensformen. Aber blödet nicht immer wieder in den fixen Ideen herum, daß sich die Geburt des Feuers aus der Asche vollziehen werde!

Im Prinzessintheater sitzen in zerknüllten Blusen kleine Ladenmädchen; alte Jungfern halten sich Lorgnons vor Triefaugen und buchstabieren jedes Wort leise mit. Ich habe in der Linken drei Rollen Pfefferminz, in der Rechten das Strafgesetzbuch, auf meinem Schoß drei Rosenknospen für Frau Irene. Über die Rosenknospen lege ich behutsam meinen noch feuchten Badeanzug, der Feuchte wegen einerseits und der Rosen wegen andrerseits. Sechs Akte flimmern träge dahin, um uns die zu zeigen, welche »Anders als die Andern« sind. Die »Andern«: ehrsame Bürger, steif-stelzende Patrizier; alte, liebe, verhutzelte Kuppelmütter; kleine Kokotten, die spitzbübisch streicheln; Stars mit Pleureuse und Reiher, die sich mit Avec malerisch auf dem Diwan gruppieren. Aber alle so wie Adam und Eva, die Kain und Abel und somit uns alle auf diesen Planeten setzten. Und die »anders« als die »Andern« sind: der Violinist, vor dem die junge Witwe vergebens mit der Pupille jongliert, um den sie vergebens die Arme fleischig rundet; und als die kleine Else seine Künstlermähne mit Sentiment-Gefühl und Donauwellengewoge durch ihre schlanken Mädchenfinger gleiten läßt, da - ist er peinlich berührt. Und »anders als die Andern«: auch sein Herzensfreund und Lieblingsschüler. Also: alles klar zum Gefecht zwischen den »Andern« und den »Anders als die Andern«. Beide Parteien erhalten Hilfstruppen: Die »anders als die Andern« werden befittigt von dem Sexualforscher Magnus Hirschfeld in Persona, mit wissenschaftlichem Material und Exzerpten aus der ganzen Weltgeschichte. Die »Andern« exponieren sich in einem Ammenmärchensatan, der immer sagt: la bourse oder § 175. Das Ende vom Lied (unter dem Gesäusel alles schmelzenden und schmalzigen Tongewoges) - das Ende vom Lied: der Violinist gibt sich den Tod (mit Plätzchen, die meinen Pfefferminz' ähnlich; aber auch übrigens Asperin sein können). Magnus Hirschfeld aber erhebt einen großen Gelehrtenfinger, zeigt auf die »Gesellschaft«, droht und holt das künftige »Gesetzbuch der Republik« aus der Zukunft in die Filmgegenwart. Er schlägt Seite: § 175 auf; seine riesige Gelehrtenhand ergreift einen imponierenden Pinsel, der vorher in chinesische Tusche getunkt war, und in zwei schönen langen Diagonalstrichen wird der Paragraph (sagen wir:) in effigie gekreuzigt.

Dieses sozialhygienische Filmwerk mit wissenschaftlicher Unterstützung von Dr. Magnus Hirschfeld (wer stützt wen?), unter der Regie von Richard Oswald und der darstellerischen Mitwirkung von Conrad Veidt, Wilhelm Diegelmann, Anita Berber, Reinhold Schünzel ist elender, öder, phantasieloser Kitsch, aufgeputzt mit ernsthaftesten wissenschaftlichen Forschungen und anschaulich gemacht von einer technisch außerordentlich fortgeschrittenen Filmkunst. Die Interieurs waren von einer Schärfe, die Landschaften von einer Koloritstufung, die Handlung von einer ruhigen Ausgeglichenheit, die viele begrabenen Filmhoffnungen neu erweckten.

Und doch! Muß der Film dieser Mülleimer für alle Tagesabfälle bleiben: Pikanterie und Stumpfsinn, Schaulust und photographierter Gleichgültigkeit, Propaganda und Schauspielerehrgeiz? Dann, o Dame, Herr, gehe dieser Kelch das nächste Mal an mir vorüber!

Es ist völlig unmotiviert, den Film ANDERS ALS DIE ANDERN einen »Schmutzfilm« zu nennen. Er enthält weder grobe Obscönitäten noch erotisches Raffinement. Es zeugt von wenig psychologischem Scharfsinn, hinter dieser langweiligen Harmlosigkeit die Konjektur eines Sittenverderbers zu wittern. Dieser Aufklärungsfilm ist eben ein mühsam zusammengekittetes Gemächsel von wichtigem, ernsten medizinischen Material und kindischer, phantasieloser Romanbosselei. Seine Bedeutung liegt darin, daß er ein interessanter Beitrag zur Ahnungslosigkeit unserer Volkspsychologen und Volkspädagogen ist.

Ludwig Marcuse

Aus: Kothurn, Königsberg, Nr. 4, 1.9.1919

Anders als die Andern: Conrad Veidt, Fritz Schulz


Aufklärung?

Ganz neuerdings sind es die perversen Erscheinungen des Sexuallebens, die sich als Inhalt von Aufklärungsfilmen besonderer Beliebtheit erfreuen. Darüber muß ja unsere Jugend notwendig aufgeklärt werden! Schon damit sie später einmal für die Straflosigkeit dieser bei uns glücklicherweise strafbaren Vergehen eintreten kann. Das par nobile fratrum Oswald und
Hirschfeld zeichnet den Film ANDERS ALS DIE ANDERN. Er schildert das Geschlechtsleben der Homosexuellen, das zu den genannten Vergehen führt. Ich habe ihn nicht gesehen, schließe nur aus verschiedenen Schilderungen, daß er sehr unanständig ist. Bei einer Vorführung in Berlin verließ eine Anzahl Soldaten - die doch sonst nicht gerade die prüdesten sind - mit Protest den Saal. Ihr Exodus war begleitet von dem höhnischen Grinsen rassefremder Besucher, die ostensibel sitzen blieben, um diese Köstlichkeit bis zu Ende genießen zu können.

Dr. Konrad Lange (Ord. Professor der Kunstgeschichte und Kunstlehre an der Universität Tübingen): Das Kino in Gegenwart und Zukunft. Stuttgart: Enke 1920, S. 37-38.


Ruf nach Zensur

Schon jetzt zeigt sich, daß die Anziehungskraft der gewöhnlichen Aufklärungsfilme allmählich abnimmt. Da aber mit solchen Mitteln glänzende Geschäfte zu machen sind, werden jetzt gröbere Geschütze aufgefahren. Mit dem Film ANDERS ALS DIE ANDERN wird das Gebiet des Perversen betreten. Nach den mir vorliegenden Berichten aus Berlin und Hamburg geht dieser Film noch mehr als die anderen Aufklärungsfilme auf leisen Sohlen einher. Wer glaubt, er würde bei dieser Gelegenheit etwas besonders Pikantes zu sehen bekommen, wird enttäuscht werden. Nach dieser Seite ist also kein Anlaß zu besonderer Aufregung gegeben. Ebenso läßt sich unter ernsthaften Menschen durchaus reden über die Frage, ob das Strafgesetz das rechte Mittel ist zur Behandlung dieser krankhaft entarteten Menschen, ob hier nicht statt Abscheu vielmehr Erbarmung am Platze ist. Aber das ist es nicht, was dieser Film fordert. Schon in dem Titel ANDERS ALS DIE ANDERN liegt der dreiste Anspruch der Homosexuellen, nur als »Andere«, d.h. als Gleichberechtigte unter normalen und gesunden Menschen angesehen zu werden. Wer die Bewegung kennt, weiß, daß das ihr wirkliches Ziel ist. Das führt zu einer völligen Verwirrung der Begriffe, gegen die wir uns mit allen Mitteln wehren müssen. Dann handelt es sich nicht mehr um die Frage, wie der einzelne Kranke zu heilen oder zu behandeln ist, sondern darum, ob das gesunde Volksempfinden sich an den Neigungen dieser Entarteten zu orientieren hat. Darauf läuft es hinaus, wenn man diese heikle Frage auf die Filmbühne zerrt. Das Kino ist nicht das Forum, vor dem diese Frage zu entscheiden ist. Das Bedenkliche ist auch in diesem Fall nicht so sehr der Inhalt des einzelnen Films, als vielmehr die Tatsache, daß überhaupt diese Frage vor dem Kinopublikum zur Entscheidung gebracht werden soll. Darin liegt eine unerträgliche Zumutung für alle, denen eine gesunde Entwicklung unseres Volkslebens am Herzen liegt. Diejenigen, welche solche Vorführungen betreiben, sollen sich nicht wundern, wenn sie Wind säen, daß sie Sturm ernten. In Berlin und mehreren anderen Städten ist das Publikum schon zur Selbsthilfe geschritten. Unter solchen Umständen ist es natürlich, daß immer lauter der Ruf nach einer gesetzlichen Regelung dieser Dinge, letzten Endes nach einer Sozialisierung und Kommunalisierung des Kinos erschallt. Auch ich sehe kein anderes Mittel, unser Volk vor dem Sumpf zu bewahren, in den uns das Kino hineinzuziehen droht.

Pastor Martin Cornils (Vorsitzender des ehrenamtlichen Ausschusses zum Jugendschutz in Lichtspieltheatern)

Aus: Kieler Nachrichten, 7.9.1919

Anders als die Andern: Reinhold Schünzel, Conrad Veidt


Plädoyer für Liberalität

Homosexualität ist eine in Deutschland ganz besonders unglückliche Naturanlage. Denn der § 175 verbietet sie unter schwerer, entehrender Strafe, wohlverstanden aber nur die unter Männern, nicht bei Frauen, die sicher ebenso, wenn nicht stärker, verbreitet ist als die männliche. Das Gesetz macht, konstruiert also ein moralisches Verbrechen, das von Natur aus als solches nicht vorhanden ist, sondern nur eine Variation der Geschlechtsveranlagung darstellt, die an sich wohl krankhaft erscheint, aber durchaus keine Krankheit ist. Niemand hat das Recht, eine Abnormität zu bestrafen, für die der Betroffene nichts kann, zumal der Paragraph 175 sicher mehr Unheil angerichtet hat, als wenn er nicht vorhanden wäre. (...) Das weibische Getue vieler Homosexueller indessen stößt selbstverständlich auch uns ab, auch preisen wir hiermit keineswegs das Anormale zu ungunsten des Normalen, wir verlangen nur, daß die Ungerechtigkeit, die darin liegt, daß man eine schon als Unglück zu betrachtende Veranlagung entehrend bestraft, aus dem Gesetzbuch verschwinde.

Dies ist auch der ehrliche und, wie wir uns nach strengstem Maßstab überzeugt haben, durchaus wissenschaftliche Zweck des Films im Lessing-Theater, ja wir erkennen im Gegenteil an, mit wieviel Dezenz, Takt und Haltung das Problem dort keineswegs breitgetreten, sondern ernst erörtert und sachlich wie künstlerisch in gediegener Form einem Publikum dargeboten wird, von dem die Direktion des Lessing-Theaters den sachlich-wissenschaftlichen Anstand voraussetzt, den es in seiner Masse nicht hat, nicht haben kann. Dies ist der einzige Vorwurf, der die Leitung trifft neben dem, daß sie letzthin unter dem weit dehnbaren Begriff des Aufklärungsfilms doch manche Schlüpfrigkeit mit durchgehen ließ - bei welchen Gelegenheiten allerdings niemand pfiff oder sich sonstwie gegen Un- oder Halbmoral »einsetzte«. Uns scheint, der Widerspruch gegen diesen rein wissenschaftlich gehaltenen Film, im welchem der bekannte Sexualpsychologe Dr. Magnus Hirschfeld selbst die Rolle des Arztes spielt, entspringt törichter Voreingenommenheit gegen ein solches Thema überhaupt, einerlei, ob es dezent dargestellt wird oder nicht. Und die Furcht, es könnten Jugendliche durch diese Darbietung in abnorme Gefühlswelten geraten, ist aus zwei Gründen lächerlich: erstens kann ein Film, selbst wenn er die Richtung auf das eigene Geschlecht priese (was doch gar nicht geschieht), in keinem Menschen eine Veranlagung erzeugen, die er nicht hat; zweitens wird hier das Leiden dieser abnorm Fühlenden so erschütternd erwiesen, daß eine krasse Abschreckung erreicht wird, also ein nur moralischer Zweck, der von der Bühne aus nicht möglich wäre.

Die erste Stufe des Urteils ist die der Partei, die zweite die der Einsicht, die dritte die der Übersicht und Gerechtigkeit. Suchen wir auf der höchsten zu stehen und überlassen wir das Geschrei nach unüberlegter Moral denen, die erwiesenermaßen eine unglückliche Veranlagung, die sie nicht verstehen und ablehnen, in eine Linie setzen mit der Unmoral, die sie sehr gut verstehen und nicht ablehnen.

L. B.

Aus: Neue Hamburger Zeitung, 18.8.1919



Bekenntnisse der Betroffenheit

»Seinerzeit hatte ich Ihnen gesagt, daß ich vom Film nichts hielte und nun gar von einem Aufklärungsfilm erst recht nichts. (...) Und ich war, um offen zu sein, recht geärgert, daß ein Mann von Ihrem Ruf solch ein Machwerk - wie ich damals annahm - mit seinem Namen deckte. Mit welchem Vorurteil ich mir den Film ansah, ist (...) daher leicht ersichtlich. Wie angenehm wurde ich enttäuscht! Statt der erwarteten pikanten Szenen sah ich eine ernste, noch besser tragische Handlung. So eindrucksvoll in ihrer Wirkung, daß die um mich herum sitzenden Frauen - es waren alles Leute aus dem Volke - weinten. (...) Ich bin überzeugt, daß Sie durch den Film dazu beigetragen haben, die gesellschaftliche Stellung der Homosexuellen zu verbessern, und daß immer mehr Menschen in Ihren Ruf einstimmen: Weg mit dem § 175.« (W. R.)

»Dieser Film war etwas Großartiges. Und das ist der erste, der mir bis heute so recht gefallen hat. Er enthielt nichts als die Wahrheit! O, möchte es doch gelingen, diesen Paragraphen ganz abzuschaffen, der mich, je älter ich werde, immer mehr ängstigt. Ich wage bei Theater- oder Konzertbesuchen kaum noch jemand anzusehen aus Furcht, es möchte ein Erpresser mich erkennen.« (Ein Postbeamter)

»Gleichzeitig mit diesem Briefe geht ein anderer an meine Eltern ab. In ihm will ich sie auf Ihr Werk aufmerksam machen. Sie sollen es sehen, und dann will ich ihnen auch das Letzte von mir sagen.« (Ein Redakteur)

Briefe an Magnus Hirschfeld

Aus: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. XIX, Heft 1/2

Anders als die Andern: Anita Berber, Ilse von Tasso-Lind, Conrad Veidt


Homosexualität und Judentum

Die »Deutsche Zeitung«, wohl das widerlichste und tiefststehende unter den alldeutschen Berliner Tageblättern, hat eine seltsame Entdeckung gemacht, die weiteren Kreisen mitgeteilt zu werden verdient. Sie erzählt in ihrem Freitags-Abendblatt unter heftigen Ausfällen gegen die Aufklärungsfilme von einer stürmisch bewegten Vorstellung im B.T.L. in der Potsdamer Straße gelegentlich der Aufführung von ANDERS ALS DIE ANDERN. Danach hätte schon das erste Auftreten des Helden von ANDERS ALS DIE ANDERN und seines Schülers, eines »wahren Prachtexemplars der jüdischen Rasse«, einen Entrüstungssturm im Hause hervorgerufen. Von allen Seiten ertönten Pfuirufe, man johlte, schrie und pfiff. Trotzdem wurde der Film weiter gekurbelt. Als dann aber »Das Puppenkaffee« gekommen sei, wo in widerlichster Weise getanzt wurde, Jünglinge teilweise als Mädchen verkleidet, da sei es zu erneutem Tumult gekommen. Von allen Seiten tönte es: »Sollen wir Deutschen uns denn von den Juden verseuchen lassen?« - »Wie kann uns nur so etwas geboten werden?« - »Wo bleibt hier die Wissenschaft?« Mehrfach wurde versucht weiterzuspielen, aber der Lärm sei zu groß gewesen. Zeitweise habe es drohend ausgesehen, besonders als sich eine »Anzahl von Judenjungen« von dem ersten Schreck erholt hatten und nun mit wilder Begeisterung von Aufklärung und Wissenschaft redeten. Wirklich sei es ihnen auch gelungen, einen Teil der Besucher auf ihre Seite zu bekommen, doch ging die Unruhe im Saal weiter, bis ein großer Teil des Publikums den Saal verließ.

Soweit die Darstellung der »Deutschen Zeitung« über die tatsächlichen Vorgänge des »Skandals«, deren Richtigkeit wir gutgläubig hinnehmen wollen. Das Blatt fügt daran die Fragen: »Ob man diesen Vorgang wohl als ein Zeichen der Zeit auffassen kann? und sollte das deutsche Volk doch allmählich wach werden und merken, wohin es treibt?« Diese Phrasen, die höchst gedankenlos aus dem ständigen Wortschatz der alldeutschen Blätter entnommen hierher gesetzt sind, passen auf die ganze Angelegenheit wie die Faust aufs Auge. Doch das nur nebenbei. Bedeutsam an der ganzen Angelegenheit ist lediglich die fast unglaubliche Tatsache, daß nun auch die Schuld an der Homosexualität den Juden in die Schuhe geschoben werden soll. Das ist unseres Wissens eine neue Walze auf dem sonst schon stark abgespielten Leierkasten des Antisemitismus. (...)

Wir interessieren uns für diesen - übrigens wohl geflissentlich aufgebauschten - Vorfall nur deshalb, weil zweifellos das ganze wüste Antisemitengezeter lediglich erhoben wird, um mal auf anderem Wege für die Wiedereinführung der Filmzensur Propaganda zu machen. Daraus macht der Artikelschreiber auch gar keinen Hehl. Er schließt nämlich seinen Bericht mit den Worten: »Die Zensur ist aufgehoben, und der Erfolg -? Wie wir von anderer Seite erfahren, sind Gesuche um ein Verbot dieser Schundfilme an das Polizeipräsidium und andere zuständige Stellen gerichtet worden, ohne Erfolg. Muß da nicht das Volk zur Selbsthilfe greifen?« Der Hauptzweck der Übung ist also - wenn auch indirekt - der Schrei nach der Zensur, der ja, wie wir erst kürzlich betonten, jetzt in besonders starkem Maße von der alldeutsch-antisemitischen Presse ausgestoßen wird. Da nun in den allernächsten Tagen in Weimar die Entscheidung über die Frage der Wiedereinführung der Filmzensur fällt, ist es vielleicht doch noch in letzter Stunde von Nutzen, den Herren Sozialdemokraten und Demokraten noch einmal aufzuzeigen, in welch widerliche, alberne und schmutzige Gesellschaft sie geraten, wenn sie mit Leuten an einem Strange ziehen, die in dem Kampf um die Filmzensur sich solch gemeiner Mittel zu bedienen nicht entblöden.

Walther Friedmann

Aus: Film-Kurier, Nr. 33, 13.7.1919



Zensur oder Selbstzucht

Mein Standpunkt ist der: ich habe als freier Schriftsteller das Recht, jedes Thema für den Film zu bearbeiten, welches ich für geeignet halte. Ich lasse mir von keinem Menschen in dieser Beziehung Vorschriften machen. Ob ich die Grenzen der Sittlichkeit überschreite, darüber hat lediglich der Staatsanwalt zu entscheiden. Eine sonstige Bevormundung brauche ich nicht. Wenn ich es für richtig halte und ein geeignetes Thema dafür finde, werde ich nach wie vor auch Aufklärungsfilme herstellen. Gegen die Unterstellung, daß ich jemals unter der Maske »Aufklärungsfilm« Obscönfilme hergestellt hätte, verwahre ich mich nicht nur, sondern werde gegen jeden, der diese oder eine ähnliche Behauptung zukünftig aufstellt, strafrechtlich vorgehen. Für mich ist jedenfalls diese Hetze, welche lediglich der Neid, die Borniertheit und Gewissenlosigkeit diktiert, erledigt.

Richard Oswald

Aus: Film-Kurier, Nr. 24, 3.7.1919



Literatur

Material:

  • Anders als die Andern. Berlin: Richard Oswald-Film 1919, 10 S. (Verleih-Broschüre; Zitate von Kriminalkommissar Dr. Heinrich Kopp, Professor Dr. Sigmund Freud, Pastor Ernst Baars und Dr. Magnus Hirschfeld).
  • Das Filmwerk Anders als die Andern (§ 175). Eine Zusammenstellung. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Hg. v. Wissenschaftlich-humanitären Komitee, Berlin, Dr. Magnus Hirschfeld, Jg. XIX, 1919, Heft 1/2; auch als Sonderdruck, 48 S. (Synopsis, Kritiken, Leserzuschriften).
  • Victor Neuenberg: Kinogreuel. In: Der Kritiker, Nr. 14, 7.6.1919.
  • Richard Oswald: Zensur oder Selbstzucht. In: Film-Kurier, Nr. 12, 19.6.1919.
  • Richard Oswald: Zensur oder Selbstzucht (II). In: Film-Kurier, Nr. 24, 3.7.1919.
  • Fr. (Dr. jur. Walther Friedmann): Homosexualität und Judentum. In: Film-Kurier, Nr. 33, 13.7.1919 (Kommentar zu einem antisemitischen Artikel in der »Deutschen Zeitung«).
  • Protestszenen im Kino. In: Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 328, 18.7.1919.
  • Dr. J. B.: Ist der Film »Anders als die Andern« unsittlich? In: Film-Kurier, Nr. 39, 19.7.1919.
  • Maximilian Maulbecker: Die Friedenauer Tugendwächter. In: Film-Kurier, Nr. 41, 24.7.1919. (über das Aufführungsverbot in Berlin-Friedenau).
  • Die Aufklärungsfilme von Magnus Hirschfeld und Richard Oswald. In: Vorwärts, Nr. 377, 26.7.1919 (Bericht über Auseinandersetzungen um den Film).
  • Ludwig Marcuse: Der Homosexualfilm. In: Kothurn, Monatsschrift für Literatur, Theater und Kunst, Königsberg, Nr. 4, 1.9.1919.
  • Pastor Martin Cornils: Anders als die Andern. In: Kieler Neueste Nachrichten, 7.9.1919 (dazu Leserbriefe in: 10.9.1919, 9.10.1919).
  • Artur Molkenbuhr: Anders als die Andern. In: Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 10.9.1919 (Entgegnung auf Cornils; vgl. Dokumentation dieser Debatte im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen).
  • Die preußische Regierung und der Aufklärungsfilm. In: Berliner Tageblatt, Nr. 244, 24.9.1919 (zur Zensur).
  • Gegen die »Aufklärungs«-Filme. In: Die Hochwacht, Monatsschrift zur Wahrung und Pflege deutscher Geisteskultur, hg. v. Prof. Dr. Karl Brunner, Nr. 10, Oktober 1919 (über das Aufführungsverbot in Friedenau).
  • Dr. Konrad Lange: Das Kino in Gegenwart und Zukunft. Stuttgart: Enke 1920, S. 37-38.
  • Richard Treitel: Filmaufführungsverträge über unsittliche Filme. In: Das Blaue Heft (Freie deutsche Bühne), Nr. 2, 8.10.1921 (über ein Urteil des Langerichts I, Berlin, zur Gültigkeit von Filmverleihverträgen anläßlich der Absetzung von »Anders als die Andern« durch einen Kinobesitzer).
  • Curt Moreck: »Aufklärungsfilm« und »Animierfilm«. In: C. M.: Sittengeschichte des Kinos. Dresden: Aretz 1926, S. 184-208.
  • anon.: Verpaßte Sexualreformen. In: Rolf Italiaander (Hg.): Wir erlebten das Ende der Weimarer Republik. Zeitgenossen berichten. Düsseldorf: Droste 1982, S. 96-97.
  • Wolfgang Theis: Anders als die Andern. Geschichte eines Filmskandals. und Verdrängung und Travestie. Das vage Bild der Homosexualität im deutschen Film (1917-1957). In: Eldorado. Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur. Hg. v. Berlin Museum. Berlin/West: Frölich & Kaufmann 1984, S. 28-30, 102-113.

Kritiken:

  • anon. in: Neue Berliner 12Uhr Mittags-Zeitung, 27.5.1919.
  • W. in: Die Große Glocke, Berlin, 28.5.1919.
  • L. M. in: Räte-Zeitung, Berlin, 28.5.1919.
  • anon. in: B. Z. am Mittag, Nr. 118, 30.5.1919.
  • anon. in: Der Film, Nr. 22, 31.5.1919.
  • B(obby) E. Lüthge in: Film-Kurier, Nr. 1, 31.5.1919.
  • anon. in: Vorwärts, Nr. 277, 1.6.1919.
  • anon. in: Deutsche Volkszeitung, Hannover, 12.6.1919.
  • Nemo. in: Der Kinematograph, Düsseldorf, Nr. 546, 16.7.1919 (über die Premiere am 9.7.1919 in den Schadow-Lichtspielen, Düsseldorf).
  • anon. in: 8Uhr-Abendblatt, 17.7.1919.
  • anon. in: Berliner Tageblatt, Nr. 178, 18.7.1919.
  • anon. in: Iserlohner Kreis-Anzeiger und Zeitung, 18.7.1919.
  • anon. in: Volkswacht, Breslau, 18.7.1919 (vgl. dazu Anzeige in: Lichtbild-Bühne, Nr. 30, 26.7.1919).
  • anon. in: Der Film, Nr. 30, 26.7.1919 (Kritische Notiz).
  • anon. in: Frankfurter Zeitung, Nr. 549, 27.7.1919.
  • Franz Pauli in: Das Gewissen, 29.7.1919.
  • anon. in: B. Z. am Mittag, 18.8.1919.
  • L. B. in: Neue Hamburger Zeitung, 18.8.1919.
  • C. Wgr. in: Hamburger Volkszeitung, 18.8.1919.
  • k. in: Generalanzeiger für Hamburg-Altona, 19.8.1919.
  • anon. in: Hamburger Fremdenblatt, 20.8.1919. (die vier hamburger Artikel nachgedruckt in einer Anzeige in: Der Film, Nr. 37, 14.9.1919.
  • anon. in: Meininger Tageblatt, 30.8.1919.
  • Dr. Johann Ude in: Christliche Volkswacht, Oktoberheft 1919.

Zu »Gesetze der Liebe«

  • Dr. Magnus Hirschfeld, Dr. H. Beck: Gesetze der Liebe. Aus der Mappe eines Sexualforschers. Berlin-Hessenwinkel: Verlag der Neuen Gesellschaft 1927, 64 S., ill. (u.a. Inhaltsangabe des Teils »Schuldlos geächtet!«, der auf »Anders als die Andern« beruht).
  • R. O. in: Film-Kurier, Nr. 272, 17.11.1927.
  • E. P. in: Lichtbild-Bühne, Nr. 277, 19.11.1927.
  • c-c. in: Reichsfilmblatt, Nr. 46, 19.11.1927.
  • A. Kamen in: Die Rote Fahne, 3.12.1927.
  • r. in: Vorwärts, Nr. 573, 4.12.1927.
  • Friedrich Radszuweit in: Blätter für Menschenrecht, Halbmonatsschrift für Wahrheit und Recht mit der wissenschaftlichen Beilage »Geschlecht, Gesetz, Gesellschaft« und der Unterhaltungsbeilage »Ideale Freundschaft«, Berlin, Nr. 1, 2.1.1928.


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