Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

Der Löwenbändiger

Michael Esser

Lady Hamilton: Conrad Veidt


Richard Oswald mochte die Vollblut-Schauspieler; und wenn er es sich leisten konnte, engagierte er die besten und berühmtesten seiner Zeit gleich dutzendweise. Die Besetzungslisten von LADY HAMILTON und LUCREZIA BORGIA lesen sich wie ein Katalog der Bühnen-Prominenz: Heinrich George, Albert Bassermann, Paul Wegener, Wilhelm Dieterle, Paul Bildt, Hans Heinrich von Twardowski, Alexander Granach, Max Adalbert, Karl Platen, Werner Krauß, Reinhold Schünzel, Conrad Veidt... Oswalds Inflationsfilme sind All Star-Produktionen; sein Papiergeld hat er nicht in überwältigendes Kino, sondern in die Aufzeichnung von Mienen und Gesten investiert. Am liebsten und häufigsten arbeitete Oswald mit Schünzel, Krauß und Veidt: dem Faxen-Macher, dem Masken-Bildner und dem Traum-Wandler.

Der allerberühmteste und allerbeliebteste Schauspieler aber hat keine Rolle gespielt bei Richard Oswald, obwohl ihm die Figur eines Tyrannen etwa in CARLOS UND ELISABETH hätte auf den Leib geschrieben sein können und sein HAUPTMANN VON KÖPENICK vorstellbar gewesen wäre als Spiegelbild zu DER LETZTE MANN. Außerdem hätte dieser Schauspieler eine fabelhafte Zugnummer abgegeben für den Produzenten, Reklamefachmann und Kino-Besitzer Richard Oswald. Daß Emil Jannings keine Rolle spielte bei Richard Oswald ist schon merkwürdig; offensichtlich paßte der Schauspieler Jannings dem Film-Regisseur Oswald nicht ins Konzept.

Oswald-Kino

1913 hatte das Kino in Deutschland mit DER STUDENT VON PRAG den Bogen zur literarischen Tradition der Romantik geschlagen und die Figur des Doppelgängers für sich entdeckt. DER STUDENT VON PRAG wandte sich bewußt an ein gehobenes Publikum: Nach Art der im Theater üblichen Programmhefte präsentierte der Film vor Beginn der Spielhandlung die Schauspieler in einer Galerie von bewegten Porträt-Aufnahmen. Kino war seit 1913 kulturelles Ereignis und gesellschaftsfähig.

1916 drehte Richard Oswald mit HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN seinen ersten Film in eigener Produktion; frei nach E.T.A. Hoffmann geistern Wiedergänger, geraubte Spiegelbilder und animierte Automaten durch das Geschehen. Doch bevor es losgehen darf, posiert der Filmkünstler Oswald neben einem Schiller-Gedenkstein; der Wind spielt mit den Blättern eines in den Bild-Ausschnitt ragenden Astes.

Die erste Szene der Handlung zeigt zwei Gestalten, die einander an einem Tisch gegenüber sitzen. Ihre Bewegungen scheinen sich aus einer lang andauernden Starre zu lösen, wenn sie die vor ihnen stehenden Gläser heben und einander zuprosten. Nach dieser Szene wird der Film von den phantastischen Erfahrungen erzählen, die eine der beiden Gestalten in der Vergangenheit gemacht hat.

Der Film gibt sich einen Rahmen, indem er ein populäres Gemälde zitiert: Der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann und der Schauspieler Ludwig Devrient bei der Punschbowle in Lutters Weinstube. Vor der Filmkamera war das Guckkasten-Theater, vor dem Kinobesucher wird es Magie. Denn es herrscht schaurige Stille in der Filmszene; sie könnte im Kino auch von der lebhaftesten Begleitmusik nicht gebannt werden. Kein Ton klingt beim Anstoßen der Gläser. Kein Scharren der Füße, kein Räuspern, nichts. Man muß bei Stummfilmen auch hinhören, um die Gespenster zu sehen.

Richard Oswald kannte das Theater zu genau, um es im Film bloß wiederholen zu wollen. Gerade weil er Theatrales in seinen Filmen nicht scheute, wird der Unterschied zwischen Theater und Kino sinnfällig. Wo auf der Bühne dem Schauspieler das Herz pocht und die von ihm dargestellte Figur beseelt, da gibt es auf der Kinoleinwand nur seine Gestalt als bewegte Komposition aus Licht und Schatten. In Richard Oswalds Film sind sogar die dargestellten Figuren Zitate eines Gemäldes: Zeichen, die auf Zeichen verweisen.

HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN ist ein Lehrstück über das Kino. Die Olympia-Episode erzählt von den veränderten Realitäten, denen sich Hoffmann ausgeliefert sieht, nachdem der dämonische Dapertutto dessen Alltagsbrille durch eine neue Optik ersetzt hat. Marmorstatuen wechseln vor Hoffmanns Augen ihre Positionen, und die »Automate« Olympia gewinnt den Reiz eines liebenswerten Geschöpfes aus Fleisch und Blut. Die Nachbildungen werden ihm zu seinesgleichen.

Die simple Wahrheit der Olympia-Episode wird durch das Kino bewiesen, also auch durch Oswalds Film. Die Schauspielerin Alice Scheel-Hechy mußte sich keine große Mühe geben, um die von ihr dargestellte Gliederpuppe Olympia mit eckigen Gesten und ruckendem Gang dem Ideal eines menschenähnlichen Automaten anzunähern. Allein schon die mechanische Reproduktion ihrer mit 16 Bildern in der Sekunde fotografierten Bewegungen reicht dafür aus; der Kinoapparat tilgt jede Leibhaftigkeit aus ihrer Figur.

Dida Ibsens Geschichte: Werner Krauß

Dapertutto

Der von Werner Krauß gespielte Dapertutto markiert in HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN noch den einfachen Übergang von einer Rolle zur anderen; durch den Austausch der Brillen verwandelt er den Status der Dinge und der Figuren. Für den Dapertutto kommt ein Rollenwechsel gar nicht erst in Frage, schließlich bedeutet sein Name »überall« (und nirgends); er ist von vornherein der Herr unbestimmter Identität.

Der Dapertutto ist das Kino-Debüt von Werner Krauß. Von nun an wird er im Kino immer wieder Masken sich aneignen, bis hin zur schrecklichen Konsequenz der fünf Rollen in Harlans JUD SÜSS. Der Maskenspieler ist der transitorische Darsteller ohne Anspruch auf Identität, er ist ein Übersetzer. In Oswalds LADY HAMILTON etwa übersetzt Krauß Figuren der menschlichen Rede in Gesten und Mienen: Den »Hochnäsigen« nimmt er ganz wörtlich, indem er mit dem Knauf des Spazierstocks seine Nase nach oben drückt; und seine verdrehten Augen angesichts einer attraktiven Frau ergeben den Begriff »Genießer«.

Krauß' Darstellungsweise formuliert »eine Schrift, die bedeutet, ohne daß sie das Bedeutete sein will.«[1] Charaktere formt Krauß nicht. »Dem Filmschauspieler fehlt jede Möglichkeit, den Charakter der Rolle allmählich zu gestalten und ihn zu steigern. (...) Die Kunst kapituliert vor der Technik. Nicht die Dramaturgie entscheidet, sondern die Praxis der Technik, die jede gefühlsmäßige oder geistige Handlung aufhebt und spontan die Diktatur der Materie einsetzt.«[2]

Der von den Filmschauspielern im Laufe ihrer Arbeit erfahrene Widerspruch zwischen identitätsstiftender Rollengestaltung und Praxis der kinematografischen Aufnahme wird von Richard Oswald in seine Regiekonzeption einbezogen; so ist Herbert Iherings Begeisterung für den Oswald-Film DAS HAUS IN DER DRAGONERGASSE zu verstehen: »Das Geheimnis von Krauß ist, sich nicht nur bruchlos in die Gestalt als Wirklichkeit, sondern gleichzeitig in die Gestalt als Kunstform zu verwandeln. (...) Krauß spielt im Film und beherrscht das Bild. Er ist da, ohne Motivierung, ohne Voraussetzung, ohne Entwicklung, und die Einstellung des Zuschauers wird gewandelt. (...) Handlung als kontrollierbarer Vorgang hört auf. Bewegungsleidenschaft ist alles. Krauß fliegt durch realistische Zimmer - sie scheinen sich rhythmisch zu gliedern. Krauß spuckt Kirschkerne - es geschieht wie selbstverständlich in taktmäßigen Intervallen. (...) Durch die Rapidität, durch den Furor dieser Leistung wird ein ,Sittenbild' zum rhythmischen Bewegungsspiel. Übergänge und Begründungen sind überflüssig. Zwischenglieder fallen weg. In die Gipfelmomente rinnen die Bilder zusammen. Daß Richard Oswald dies in Übereinstimmung mit Krauß versucht hat, ist sein Verdienst. Daß es ihm gelungen ist, ist das Verdienst von Krauß.« [3]

Die Blume von Hawai: Fritz Fischer, Martha Eggerth

Spiel im Spiel

Die »Gestalt als Kunstform« ist typischer Protagonist, ist vielleicht sogar bevorzugtes Sujet der Oswald-Filme. Das gilt für die einem Gemälde entliehenen Gestalten Hoffmann und Devrient, das gilt für die in Frauenkleidern sich inszenierenden Männer und die in Männerkleidern sich inszenierenden Frauen aus dem § 175-Film ANDERS ALS DIE ANDERN, das gilt für den weißhäutigen und schwarzgeschminkten Negersänger Jim Boy in DIE BLUME VON HAWAI. Nicht nur Gestalten als Kunstformen, sondern Kunstgestalten ganz und gar sind die Figuren in Oswalds historisierenden Filmen. Manchmal treiben Oswald und seine Schauspieler die Auflösung der Charaktere so weit, daß die Schauspieler Kunstfiguren darstellen, die ihrerseits wieder Kunstfiguren darstellen: Liane Haid läßt ihre aus der Geschichtsschreibung zitierte LADY HAMILTON gegenüber den sie verehrenden Männern sich aufführen wie eine Frau, die unbedingt als Homers Circe gesehen werden will. Von einer künstlich erzeugten Kunstgestalt schließlich erzählt ALRAUNE.

DER HAUPTMANN VON KÖPENICK ist daher auch weniger ein Film über preußische Untugenden als vielmehr ein Film über einen Menschen, der sein Spiel mit einer Uniform und der dazu passenden Rolle treibt. Wilhelm Voigt wächst bei Oswald ja gerade nicht in die Identität eines Hauptmanns hinein; stets schlottert der Uniformrock um seine Schultern, niemals wird er ihm zur zweiten Haut. Getäuscht werden in dem Film nur die Figuren, die nicht genau hinschauen, die von der konkreten Erscheinung abstrahieren. Die Kinozuschauer wissen es besser, sie können vergnügt die von Max Adalbert demonstrierten Schwierigkeiten des verkleideten Zivilisten beobachten, der über seinen schleppenden Säbel stolpert und dessen Gefängnishof-Gang mit den Stiefelsporen kollidiert.

Die Figuren in den Filmen von Oswald spielen ihr Spiel, und Oswald schafft ihnen in der erzählten Handlung immer wieder Situationen, in denen die dargestellten Figuren ihrerseits Situationen inszenieren. Das Inquisitionstribunal in CARLOS UND ELISABETH, die verurteilende Lehrerkonferenz in ANDERS ALS DIE ANDERN oder das Femegericht in FEME sind solche dem Theater abgeguckte Inszenierungen. Die Rollen der Richtenden erscheinen als angemaßte, die der Angeklagten als erzwungene; die Theaterdramaturgie wirkt fadenscheinig. So gesehen war Richard Oswald tatsächlich ein Aufklärer.

Filme von Oswald sind im Grunde Filme über Rollen. Besonders variationsreich führt das DIE BLUME VON HAWAI vor; die von Martha Eggerth gespielte Susanne durchläuft immer neue, immer neues Verhalten erfordernde Situationen einer wunderbaren Karriere. Sie verkauft Zigaretten in einem Pariser Varieté, sie zeigt sich als Mätresse an der Seite eines amerikanischen Diplomaten, sie steppt mit professionellem Schwung zur Jazz-Musik, sie wandelt weltgewandt über Promenadendecks, sie genießt den Flair einer umschwärmten Schönheit, und sie entpuppt sich als Prinzessin von Hawaii.

Es bleibt beim: als ob. Fest steht für Susanne nur, daß Hawaii zwar das Ziel ihrer Träume, die Existenz als Prinzessin einer Insel jedoch nicht der Sinn ihres Lebens ist. Wie fast alle Figuren bei Oswald hat Susanne einiges durchzumachen, ohne aber eine klar umrissene Identität ganz zu erreichen.

(Vielleicht hat deswegen Emil Jannings nie eine Rolle bei Oswald gespielt. Denn Jannings rückt seine Körperlichkeit in den Vordergrund, er behauptet bei seinen Filmauftritten die Übereinstimmung zwischen sich und der Rolle, und er behauptet sie üblicherweise dergestalt, daß daraus die Bestätigung des genialen Schauspielers Emil Jannings wird. Jannings spielt am liebsten seine Rollen ebenso in Grund und Boden, wie er seine Kollegen mit Bauch und Gesten an die Wand und aus dem Bildkader drängt. Andererseits gibt es auch Jannings als Mephisto und Jannings als Toilettenwärter, aber das ist etwas anderes: Von Murnau kann im Zusammenhang mit Oswald nur ganz am Rande die Rede sein.)

Identität von Darsteller und dargestellter Figur, von Figur und Rolle beweisen bei Oswald einzig die Typen vom Schlage eines Siegfried Arno oder Reinhold Schünzel. Deren Identität ist dann die der Parodisten, die fragwürdigste also.

In LUMPEN UND SEIDE stiehlt Schünzels Gamaschen-Gauner den besseren Herrschaften die Schau: Er macht sich im Séparée zwischen Ehemann und Ehefrau breit, er kippt den vom Herrn Gemahl bestellten Schampus in sich hinein und er charmiert zugleich die Frau Gemahlin; er läßt in der gutbürgerlichen Wohnung seine Zigarrenasche auf den Teppich fallen, er bedient sich großzügig aus der Tabaksdose des Hausherren, der Brieftasche der Hausdame und der Bluse des Dienstmädchens; vor allem aber imitiert er mit breiten Gesten und beredten Grimassen die gepflegten Manieren der wohlerzogenen Bourgeois. Er äfft sie nach bis ihnen der Frack platzt und sie aus der Rolle fallen.

Spielregeln

»Was ist Filmregie? Die Spielleitung des Films, also die Aufgabe, das Spiel der Schauspieler zu leiten.«

Seine Filme sind leichter zu verstehen, wenn man Oswald wörtlich nimmt. Und wenn man versteht, worauf es ihm nicht ankommt.

»Der Kritiker verwechselt auch oft rein äußerliche Sachen, die der Operateur vollkommen allein und selbständig nach dem Manuskript macht, mit Regie. Technische Kunststücke haben ja gewiß ihre Daseinsberechtigung, für die man, wenn sie originell sind, vor allem das Manuskript loben muß und den Operateur; aber eigentlich haben sie mit Regie nicht viel zu tun.«

»Ich habe seiner Zeit, - ich sprach erst kürzlich mit Carl Mayer darüber - , den CALIGARI, den er mir zuerst anbot, abgelehnt. Ich habe sein Talent erkannt, was ich ihm auch damals ausdrücklich sagte, nur lehnte ich diesen Stoff ab, weil dieser Stoff filmfremd war. Es war ein Experiment, das einmal geglückt ist, aber nie Schule machen durfte.«

Man kann seine Filme besser verstehen, wenn man Oswalds Spielregeln akzeptiert. Und wenn man akzeptiert, daß er die üblichen Regeln ignoriert.

»Die Bühne ist Vorbereitung, und oft wird ein Bühnenstück hunderte Male geprobt, man kann während der Probe eine Rolle umbesetzen, man kann ändern, wieder ändern. - Beim Film ist es anders. Der Augenblick muß das Spiel gebären. Mit einigen Proben (...) wird die Szene noch am selben Tag gedreht, und dann ist sie da und kann nicht mehr geändert werden. Gewiß kann man die Szene, wenn sie einem nicht gefällt, wiederholen, aber auch dann wird sie wieder im Augenblick geboren. Der Bühnenregisseur hat also viel mehr Gelegenheit, bedächtig eine Rolle heranreifen zu lassen, während der Filmregisseur doch in gewisser Beziehung Improvisator sein muß.«

Vielleicht sind seine Filme schwerer zu verstehen, wenn man darin Oswald entdecken will. Und vielleicht kommt es darauf gar nicht an. »Der Regisseur muß hinter dem Kunstwerk zurücktreten, Regie darf nie Selbstzweck sein. Wie auf der Bühne das Wort, so muß im Film die Figur die Hauptsache sein. Der beste Regisseur ist der, den man nicht merkt.« [4]

Unheimliche Geschichten: Reinhold Schünzel

Spielräume

Richard Oswald war ein Film-Regisseur der ersten Aufnahme. Er ließ sich von seinen Schauspielern Interpretationen anbieten und er hatte Vertrauen. Oswald vertraute darauf, daß aus den angebotenen Gesten, Mienen und Gängen eben die Figuren entstehen würden, die er sich vorgestellt hatte. Und er vertraute darauf, daß es den Schauspielern um die Darstellung von Figuren, nicht um Selbstdarstellungen gehen würde. Wie sehr Oswald das Verhältnis von Darsteller zu dargestellter Figur und interpretierter Rolle beschäftigt hat, auch davon erzählen die Geschichten seiner Filme.

Die Schauspieler fanden bei Oswald günstige Arbeitsbedingungen; die Kulissen und Atelierbauten, auch die gelegentlichen Außenschauplätze waren als architektonische Räume gedacht und inszeniert. Räume sind in den Oswald-Filmen oft nach Art der traditionellen Guckkastenbühne in die Tiefe gegliedert, sie sind fast nie auf die Zweidimensionalität der Leinwand bezogen. Aber gerade weil Oswald keine filmischen Räume konzipiert, erleichtern die Schauplätze den Schauspielern die Arbeit. Aus dem Hintergrund der Atelierdekorationen läßt Oswald üblicherweise seine Hauptdarsteller auftreten, er läßt sie den Raum durchqueren bis sie ihre Position dicht an der virtuellen Rampe erreicht haben. Für die Darsteller ermöglichen diese Auftritte die gestaltende Auseinandersetzung mit den räumlichen Gegebenheiten; für die Kamera und den Kinozuschauer vollziehen diese Auftritte den kontinuierlichen Wechsel von der totalen zur halbnahen Einstellung. Die Darsteller können gewiß sein, daß die starre Kamera keinen anderen Anspruch erhebt, als ihr Spiel zu registrieren.

Der so gewonnene Raum für Hintergründiges kommt den Figuren zugute. Sehr schön ist das in ANDERS ALS DIE ANDERN anzusehen; hinten auf der Tanzfläche tummeln sich die Tunten und die kessen Väter, vorn steht der vom fiesen Erpresser bedrängte homosexuelle Violinist in der Gestalt Conrad Veidts. Im Kontrast zu dem diffusen Auf und Ab der Tanzenden erreichen Veidts deutlich markierte Gesten eine nahezu greifbare Plastizität; und gleichzeitig ist Veidts Figur zwar abgehoben von der wogenden Menschenmenge, doch ihr auch nicht völlig fern: Der Violinist ist erpreßbar, und seine Identität ist brüchig.

Die Hauptdarsteller und ihre Figuren stehen bei Oswald im Zentrum des Interesses, ihnen sichert er Integrität. Um dieses Interesse zu unterstreichen, wagt Oswald Außergewöhnliches; zum Beispiel in ANDERS ALS DIE ANDERN: Nach Handlungsmomenten, in denen seine Figur ihrer selbst nicht mehr sicher war, erscheint Conrad Veidts Gesicht vor raum- und tiefenloser Schwärze. Diese Schwärze ist weder durch Ort noch Zeit motiviert, sie versinnbildlicht nicht etwa nächtliche Dunkelheit, sondern sie blendet einfach jede Umgebung aus, verdrängt sie ins Off. Diese Schwärze verleiht, indem sie die Umrisse der Figur betont, deren Integrität eine unverletzliche Hülle.

In Oswalds Tonfilmen gehören Off-Töne zum festen Bestandteil seiner Dramaturgie.

Oswald war ein Filmregisseur der ersten Aufnahme und ein geduldiger Beobachter: Mit veidtscher Eleganz will der Violinist sein Zigarettenetui aus der Jackentasche hervorziehen und mit veidtscher Eleganz greift er ... in die falsche Tasche. Veidt muß die Geste wiederholen, aber der ganze Vorgang bleibt als ein einheitlicher auf dem Filmstreifen aufgezeichnet, und Veidts Mißgeschick wird zum Mißgeschick der dargestellten Figur.

In den Tonfilmen entstehen aus dem geduldigen Beobachten und aus der Sorge um die Integrität der Figuren lange Kamerafahrten: manchmal kommentierend und die Figuren interpretierend, häufiger forschend und den Figuren sich nähernd, meist jedoch ihre Entwicklungen in Parallelfahrten begleitend. Die Sorge um die Integrität fällt in solchen Parallelfahrten zusammen mit der Aufzeichnung des Transitorischen; die Parallelfahrten registrieren die Schritte und Bewegungen der Figuren als Wechsel von Rollen und als Rhythmus der Emotionen.

Alles erweckt in den Filmen von Oswald den Eindruck, als könnten die Veränderungen nie abgeschlossen sein; und als ob dies ein Glück sei für die Figuren. So endet DIE BLUME VON HAWAI denn auch mit einer langen Fahrtmontage von drinnen nach draußen, über Stock und Stein, durch Wind und Wasser, und mit dem Schluß des Films beginnt Susannes Reise von Hawaii nach Amerika: Wer weiß, was ihr, die schon viele Rollen zu spielen hatte, noch alles passieren wird.

Puppen

Welche Gefahren Susanne drohten, hatte eine Montage-Sequenz augenfällig zu machen versucht, die sie und ihren Tanzpartner mit einem Puppenpaar assoziierte. Puppen sind oft zu sehen in Oswald-Filmen: als Teil der Handlung in HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN, als Teil des Dekors in CARLOS UND ELISABETH oder als Zeichentrick-Männchen in DER HAUPTMANN VON KÖPENICK. Lieber noch übersetzt Oswald das Wort »Verpuppung« in Filmbilder: Der König in CARLOS UND ELISABETH hat ein Gewand zu tragen, das seine Bewegungsmöglichkeiten einschränkt, ihn wie eine Gliederpuppe wirken läßt. Die Erstarrung im Immergleichen hatte Susanne auf einer Station ihrer Karriere gedroht, die seelenlose Wiederholung eingeübter Tanz-Routinen.

Nur die Figuren in den Oswald-Filmen, die sich aus ihrer Verpuppung befreien, die immer neue Rollen zu spielen bereit sind und sich ihre Wandlungsfähigkeit erhalten, nur diese Figuren können auf ein gutes Ende rechnen. Schlimm geht es aus für Conrad Veidts Lord Nelson, der auf seine Identität als aufrechter Held und Offizier ihrer Majestät pocht, der sich nicht seiner Liebe zu LADY HAMILTON hingeben will. Im Vollbesitz seiner Keuschheit, nach etlichen Seeschlachten und dem Verlust seines rechten Armes, seines linken Auges ist er schließlich zum Sinnbild einer defekten Puppe mit zersprungener Triebfeder geworden.

Man schaut den Figuren und ihren Darstellern zu. Die Grenze des Spiels ist die Begrenzung der Leinwand. Die Figuren in den Filmen von Oswald beziehen sich immer sichtbar, immer auf der Fläche des Filmbildes zueinander; sie stehen oder sitzen einander gegenüber oder sie sind vertikal in den Raum hinein gestaffelt. An uns aber, an das Kinopublikum, wenden sich die Figuren nicht; es sei denn, eine Charge richtet nach klassischer Bühnen-Manier ein beiseite gesprochenes Wort, einen beiseite geworfenen Blick an uns, oder ein Darsteller appelliert mit einem Aufruf direkt an das Publikum: In diesen Momenten fallen die Darsteller aus der Rolle.

Grundsätzlich will Oswald uns nicht verführen, will er uns nicht einbeziehen in die Dialoge, Konfrontationen, Liebessehnsüchte. Er will bloß unsere stille Zeugenschaft. Ganz selten sind bei ihm Großaufnahmen von Darstellern zu sehen. Noch seltener ist bei ihm die identifikationsstiftende Wirkung einer Schuß-Gegenschuß-Montage zu erfahren. Üblich sind bei Oswald lange Einstellungen, üblich ist der fixierte Kamerastandpunkt.

Die männlichen Darsteller können mit den Voraussetzungen des Oswald-Kinos mehr anfangen als die weiblichen Darsteller. Die Männer umspielen im Zweifel die Frauen, und es ist ein Vergnügen, ihren Bemühungen zu folgen. Von den Frauen aber ist kein Blick zu erhaschen, stets schauen sie nur in das Bild hinein, nie zu uns herab; nie sind wir gemeint. Das Begehren bleibt den männlichen Zuschauern verwehrt.

Zugleich bezeugen die Oswald-Filme, daß der Spielraum für die Frauen eng war im Kino der 20er Jahre. Ein Krauß, ein Veidt oder ein Schünzel waren eher dazu fähig, sich Platz zu verschaffen, waren eher dazu fähig, eine Situation zu dominieren als eine Anita Berber oder Lya de Putti. Die Unverschämtheit steckt den Männern im Leibe, sie rempeln, raufen, nehmen Raum und Dekor vorübergehend in Besitz: Conrad Veidt rekelt sich in DÜRFEN WIR SCHWEIGEN? lässig auf einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl. Das durften die Frauen sich nicht erlauben; ihre Körperhaltungen und Gesten verraten die Furcht anzuecken. Eine interessante und widersprüchliche Figur wird die Susanne in dem Tonfilm DIE BLUME VON HAWAI durch die kesse Stimmlage Martha Eggerths; ihre Stimme, aber auch ihre Bewegungen, ihre klackernden Stepschritte, finden Widerhall im Bildraum. Nach Oswalds Filmen könnte man behaupten, daß die Frauen erst zu Wort kommen mußten, um besser im Bild zu sein.

In Freiheit dressiert

»Ich arbeite an dem Problem, im Film nicht nur schöne Bilder und nicht gut angezogene Puppen, sondern Menschen zu bringen.«

In den Filmen ist das Problem, an dem Oswald arbeitet, ein Problem der filmischen Realität. Die Filme erzählen von diesem Problem, und man sieht, wie die Filme an diesem Problem arbeiten. »Filmregie (ist) Improvisation, Schaffen aus dem Augenblick heraus. Nur das Technische muß vorbereitet sein, das Wesentliche der Szene muß im Augenblick empfunden sein.« [5]

Aus diesem Widerspruch entsteht das Filmische in der Darstellungsweise der Schauspieler bei Oswald. Aus ihrer Darstellungsweise ergeben sich die Figuren: Auch die Figuren sind von diesem Widerspruch geprägt. Sie sind Figuren eines technischen Zeitalters. »Ich bin dafür, daß der Schauspieler beim Film nicht denken darf. Er soll sich frei geben. Der Regisseur denkt für ihn.« [6] Die Schauspieler nutzen ihre Freiheit, um sich so zu geben, wie es ihnen im Moment gerade paßt. Da dieser Moment aber schon lange vergangen ist und nun die Reproduktion an die Stelle der Freiheit tritt, erscheint es im Kino so, als wenn die Figuren gerade die Rolle spielen, die ihnen paßt. »Eine Spielszene kann 200 Meter lang sein; deswegen braucht sie nicht langweilig zu wirken. Ich halte lange Spielszenen für das Interessanteste am Film. Es kommt nur auf die Schauspieler an.«

Bei aller Freiheit spielen die Schauspieler gegen die Kamera: Der Kurbelschlag gibt den Takt für den Rhythmus ihrer Darstellung, und der entwickelte Film zeigt, ob es auf diesen oder jenen Schauspieler auch weiterhin ankommen wird. Der Film registriert die Arbeit, die vor dem Kameraobjektiv verrichtet wird; die Arbeit der Schauspieler besteht darin, diesen Tatbestand hinter den gespielten Rollen zu verbergen. Dazwischen entstehen die Figuren.

»Wenn ich vor hundert Jahren geboren wäre, würde ich logischerweise kein Filmregisseur geworden sein, sondern wahrscheinlich Löwenbändiger. Diese beiden Berufe haben eine große Ähnlichkeit miteinander. Löwen zu bändigen ist beliebter als arme kleine Schäfchen zu dressieren.« [7]

Zitierte Literatur

  1. Max Frisch in einer Tagebuchnotiz über Marionetten. In: Max Frisch: Tagebuch 1946-1949. Frankfurt: Suhrkamp 1950, S. 139.
  2. Alfred Mühr: Die Welt des Schauspielers Werner Krauß. Berlin: Brunnen 1928, S. 43.
  3. Herbert Ihering (Kritik zu DAS HAUS IN DER DRAGONERGASSE). In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 299, 30.6.1921.
  4. Alle Zitate in diesem Abschnitt: Richard Oswald: Spielleitung im Film. (1927).
  5. Dieses und das vorhergehende Zitat: Richard Oswald: Filmregie. (1920).
  6. Dieses und das folgende Zitat: Richard Oswald: Regie und Schauspielkunst. (1919).
  7. Richard Oswald: Wir über uns selbst. (1928).


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