Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

VORDERHAUS UND HINTERHAUS (1925)

Dokument eines Zensurfalls


Hinweis: Faksimiles der genannten Zensurgutachten sind seit Anfang 1999 beim Deutschen Filminstitut (DIF) online abrufbar ( http://www.filminstitut.de/dt2tb00546.htm)

Nicht nur mit seinen »berüchtigten« Aufklärungsfilmen kam Richard Oswald in Konflikt mit der staatlichen Zensur. Auch seine unterhaltsam-satirischen Schilderungen des Milieus abseits der gutbürgerlichen Sphäre erregten die Sittenwächter. Der Film VORDERHAUS UND HINTERHAUS wurde im November 1925 sechsmal von der Filmprüfstelle verboten, einmal wurde die Beschwerde Oswalds von der Ober-Prüfstelle abgewiesen. Erst am 30. November gab ihn die Oberprüfstelle nach mehrfacher Umarbeitung und unter weiteren Schnitt-Auflagen mit Jugendverbot frei.

Durch archivalische Zufälle sind Akten der Oberprüfstelle erhalten. So ist es möglich, die Begründung ihrer Zurückweisung der Beschwerde Oswalds als Text behördlicher Realsatire zu genießen.

Am 14. November 1925 gibt der Vorsitzende, Oberregierungsrat Dr. Seeger, unter der Aktennummer 731 u.a. zu Protokoll:


Entscheidungsgründe.

Der Beschwerde war der Erfolg zu versagen.

I. Die Oberprüfstelle hat sich zunächst außerstande gesehen, in diesem Stadium des Verfahrens dem Angebot des Antragstellers auf Bereinigung des Bildstreifens durch Umarbeitung näher zu treten. Ihr erwächst aus § 13 des Lichtspielgesetzes die Pflicht, auf Grund der eingelegten Beschwerde das Vorderurteil auf seine Richtigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung nachzuprüfen. Eine solche Nachprüfung wäre nicht mehr möglich, wenn ihr der Bildstreifen in anderer Form vorliegen würde als er der Prüfstelle bei Fassung des mit der Beschwerde angefochtenen Urteils vorgelegen hat. § 7 gibt dem Beschwerdeführer die Möglichkeit, die von ihm angedeutete Umarbeitung vorzunehmen und die Prüfstelle erneut in Anspruch zu nehmen.

II. Die Beschwerde hat der Vorentscheidung zum Vorwurf gemacht, daß sie ihr Verbot in unzulässiger Weise auf die Milieuschilderung des Bildstreifens abstellt und das Nachtlokal und seine Darstellung zum Ausgang ihres Spruches gemacht habe. Das ist nicht der Fall. Die Prüfstelle ist in keiner Weise über die Grenzen des § 1 Abs. 2 des Lichtspielgesetzes hinausgegangen, wenn sie feststellt, daß im Rahmen dieses Bildstreifens die ausgedehnte Darstellung des Lebens und Treibens im Nachtlokal nach Form und Inhalt geeignet ist, entsittlichend zu wirken. Durch die angezogene Gesetzesbestimmung ist die Verwendung jedes Milieus als Vorwurf für den dramatischen Aufbau eines Bildstreifens zugelassen, sofern durch seine Darstellung keiner der absoluten Verbotstatbestände des § 1 Abs. 2 erfällt wird. Das ist aber vorliegend der Fall. Die Art und Weise wie hier eine Schilderung des Lebens im Nachtlokal gegeben wird, überschreitet die gesetzlichen Grenzen um ein Erhebliches und ist geeignet, eine entsittlichende Wirkung auszuüben.

III. Entsittlichend wirken zunächst zahlreiche Einzel-Bildfolgen des Bildstreifens, indem sie anstand- und moralverletzend wirken. In Übereinstimmung mit dem Vorderurteil seien nur die folgenden herausgegriffen:

Anstößig wirken zunächst die Bildfolgen, die allein durch die Ausgezogenheit der weiblichen Darsteller geeignet sind, die niedrigsten Instinkte des Beschauers zu erwecken. Hierher gehören einige der Ballettscenen, die Ankleidescenen in der Garderobe des Balletts, der Tanz Idunas im Nachtlokal, bei dem ihr Partner bestrebt ist, ihr einen Pelzmantel, der die nackten Oberschenkel, Knie und Beine der Tanzenden freiläßt, wegzunehmen, bis sie schließlich in Unterkleidern den Tanz vollendet. Dasselbe ist bei dem Ringkampf der beiden Rivalinnen Iduna und Natascha der Fall, bei dem sie sich die Kleider buchstäblich vom Leibe reißen und in zahlreichen Stellungen und Bewegungen willkommene Gelegenheit haben, vor dem Objektiv ihre Unterkleider zur Geltung zu bringen. Im Zusammenhang mit dieser Atmosphäre der Unterkleider steht das sinnlich aufreizende Gebaren der weiblichen Darsteller, auf das die männlichen Darsteller des Stückes, wie die Prüfstelle zutreffend feststellt, ausgiebig und meist recht eindeutig reagieren. Otto insbesondere nimmt jede Gelegenheit wahr, das Zimmermädchen Nataschas und die verliebte Magd von Frau Brenneis auf die Verlängerung des Rückens zu klopfen (Akt II nach Titel 8 und Akt IV vor Titel 1), was Mars sogar bei einer der bejahrten Teilnehmerinnen seines moralischen Balletts tut (Akt VI nach Titel 20). Wer die Wohnung der Tänzerin im II. Stock betritt, küßt die Zofe ab. Nach dem Ringkampf wird Iduna, die in Unterkleidern auf dem Sofa ausruht (Akt III nach Titel 3), nach einander von Graf, Otto und Mars geliebkost, der seinerseits die Garderobiere und Frau Brenneis hinausweist (nach Titel 4), um mit Iduna allein zu bleiben. Daß es beim Küssen (Akt II nach Titel 12 und IV nach Titel 23), sogar beim Tanzen (Akt VII nach Titel 16) nicht ohne Berührung der Brust der jeweiligen Betroffenen abgeht, sei nur nebenher betont. Durchaus eindeutig ist die Scene mit Natascha und der Zofe in dem Kabinett bei Graf und Otto (Akt II nach Titel 7). Für gesittete Menschen Anstoß erweckend ist endlich die Scene vor dem Hotel garni, vor dem der Herr aus der Provinz mit Natascha vorfährt und von einem Straßenmädchen angesprochen wird (Akt V nach Titel 18), und der das Couplet »Hoch das Bein...« versinnbildlichende Hund am Laternenpfahl (Akt VI nach Titel 17). Daß der Provinziale sich von seiner Begleiterin vor dem Hotel trennt, glaubt dem Hersteller des Bildstreifens trotz der von ihm gegebenen Charakteristik dieses »Moralisten« niemand.

IV. Entsittlichend ist aber auch die gesamte innere Haltung des Bildstreifens, die es unmöglich macht, dem Gesetz allein durch Beseitigung der eben aufgezählten Bildfolgen zu genügen.

Mit Recht hat die Prüfstelle dem Bildstreifen zum Vorwurf gemacht, daß er die Atmosphäre der Nacktheit, der Sinnlichkeit und der Schlüpfrigkeit erzeuge, die eine entsittlichende Wirkung auslösen müsse. Die Handlung steht unter dem Antrieb des Erotischen. Darauf, daß Iduna und die Zofe jedem willfährig und kußbereit sind, ist eben bereits hingewiesen. Ein Moment besonderer Eindeutigkeit in diesem Zusammenhang ist die »Dienstwohnung« der jeweils ersten Tänzerin des Nachtlokals im II. Stock des Vorderhauses. Es bedarf nicht erst des von dem Hersteller des Bildstreifens in seinem Plädoyer geforderten »Beweises« dafür, daß diese »usuelle« Einrichtung ein Verhältnis des Witwers Mars mit seinen Tänzerinnen involviert. Auch dem weniger kritischen Beschauer wird die Situation durch die Tatsache hinreichend beleuchtet (»Der Hausherr kommt!« - Akt II Titel 2), daß er »es nicht liebt, wenn seine Tänzerinnen Besuche empfangen« (Akt II Titel 4) und daß er sogleich Nachforschungen anstellt, als gewisse Anzeichen auf Herrenbesuch bei Natascha hindeuten (Titel 5). Dieselben Rechte scheint übrigens der Geschäftsführer des Lokals gegenüber den Inhaberinnen der Wohnung zu haben. Er »verbietet« Natascha, beim Grafen Tanzunterricht zu nehmen (Akt II Titel 1), und stellt ihm unwillkommene Besucher Nataschas in recht handgreiflicher Weise. Daß Otto in seinen Allüren nicht allzuweit von einem Zuhälter entfernt ist, wird durch die Tatsache nicht erheblich gemildert, daß er schließlich Iduna heiratet. Auch für diese Beziehungen ist nicht, wie der Hersteller des Bildstreifens zu meinen scheint, der Zuschauer »beweispflichtig«, entscheidend für die Ausübung der den Prüfstellen nach dem Gesetz obliegenden Wirkungsprüfung ist vielmehr allein der Eindruck, der durch die Vorführung des Bildstreifens vermittelt wird. Darüber, welche Bewandtnis es mit dem Einzug Idunas in die usuelle Tänzerinnen-Wohnung hat, wird auch der weniger kritische Zuschauer sich nicht lange im Unklaren befinden. Ihm wird es zunächst auffallen, daß Iduna nach dem Auszug Nataschas allein in deren Wohnung im Vorderhaus übersiedelt (»Du ziehst ins Vorderhaus, Natascha ist ausgezogen« - Akt IV Titel 3 - und »Idunas Einzug ins Vorderhaus« - Titel 21), während die Tante, Frau Brenneis, ihr viel später, erst nach dem Zusammenbruch Mars' ins Vorderhaus folgt (Akt VII Titel 8). Wenn hierbei der Hersteller des Bildstreifens glauben machen will, daß Frau Brenneis »nichts tut, das irgendwie den Eindruck erwecken könnte, sie wolle ihre Nichte verkuppeln«, so unterschätzt er doch den kupplerischen Eindruck, den das Auftreten der Tante macht, wenn sie Mars und Iduna in dessen Wohnung gegenübersitzend, wohlwollend den Zärtlichkeiten beider zusieht (Akt I nach Titel 25) oder beim Abschied Blicke des Einverständnisses mit Mars tauscht (Akt I nach Titel 29). Nicht mißverstanden kann es ferner werden, wenn sie auf einen Wink von Mars die Garderobe mit der Garderobiere verlaßt, um ihn mit der in derangierter Kleidung befindlichen Iduna allein zu lassen (Akt IV nach Titel 13) oder wenn sie bei dem Besuch Mars' in ihrer Wohnung Iduna mit einem wohlwollenden Puff an dessen Seite auf das Sofa befördert (Akt IV nach Titel 2). Alle diese Vorgänge in ihrer Häufung geben ein Lebensbild, das mangels jeglichen Gegenwerts auf den Beschauer herabziehend und moralverletzend einwirken muß.

Richtig ist ferner, wenn die Prüfstelle ausführt, daß der Bildstreifen das Nachtlokal als einen Faktor einstellt, der alles in seinen Bann zieht und schließlich über alles triumphiert, was trotz des vorübergehenden finanziellen Zusammenbruchs des »in Moralin getauchten« (Akt VI Titel 6) Mars am Ende des Bildstreifens tatsächlich der Fall ist. Nataschas und Idunas dirnenhaftes Wesen entspringt dem Nachtlokal, in dem sie wirken, selbst die Tochter Mars' und der junge Brenneis erliegen ihm, nachdem der Künstler durch seinen im Nachtlokal improvisierten Schlager berühmt und reich geworden und Ilse heimzuführen in der Lage ist. Auch der fernere Schluß der Prüfstelle ist nicht abzuweisen, daß durch die Scenen, die das Wirken des Herrn aus der Provinz im Nachtlokal verhöhnen, dieses als der bessere Teil hingestellt werde. Diese Darstellung geht insoweit über den Rahmen einer berechtigten Satire auf übertriebenes Muckertum hinaus und ist, worin der Prüfstelle durchaus beizutreten ist, geeignet, das sittliche Empfinden des Beschauers zu verwirren, was ebenfalls einer entsittlichenden Wirkung gleichkommt.

Diese Wirkung wird schließlich entscheidend vertieft durch die aus dem Bildstreifen hervortretende Tendenz, daß der Weg aus dem Hinterhaus ins Vorderhaus, der, wie eben aufgezeigt, recht eindeutig durch die Beziehungen Idunas zu dem Hauswirt gekennzeichnet wird, und gleichbedeutend der Weg zu Erfolg und Reichtum nur durch Preisgabe von Tugend und Anstand möglich ist. Das trifft in abgeschwächtem Maße sogar auf den jungen Menschen zu, aus dem das Nachtlokal einen Schlagerkomponisten macht und ihm so zu Ruhm und Reichtum verhilft. Bei dem Fehlen jeglicher Gegenwirkung kann diese Tendenz nur als abträglich für das sittliche Empfinden des Beschauers und als verbietungswürdig nach dem Lichtspielgesetz werden.

Damit rechtfertigt sich die gänzliche Zurückweisung der Beschwerde.

gez. Seeger


Vorderhaus und Hinterhaus: Max Adalbert, Mary Kid


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