Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930)


Wolfgang Mühl-Benninghaus


Zu Beginn der 30er Jahre wandte sich Richard Oswald mit drei Spielfilmen - DREYFUS, 1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND und DER HAUPTMANN VON KÖPENICK - fast programmatisch der jüngsten Vergangenheit zu. In allen drei Filmen versucht er, Personen der Zeitgeschichte, von denen einige bei der Entstehung der Filme noch am Leben waren, in einer kennzeichnenden historischen Situation vorzustellen. Eine thematische Verknüpfung allerdings ist zwischen den drei Filmen nicht erkennbar. Es scheint aber so, als habe Oswald mit diesen Filmen auf aktuelle Probleme seiner Gegenwart aufmerksam machen wollen: auf wachsenden Antisemitismus, Machtpolitik und Uniformkult.

Der zweite Film dieses Triptychons - 1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND - entstand vor dem Hintergrund einer intensiven Auseinandersetzung der späten Weimarer Gesellschaft mit den Weltkriegs-Ereignissen in Literatur, Hörfunk und Film. So finden sich allein im Juni 1930 im »Börsenblatt des Deutschen Buchhandels« fünfzehn Großanzeigen zu neuen Weltkriegs-Büchern. Die Deutsche Welle mied bis Anfang Mai 1931 das Kriegsthema 1914/18. Zwischen Mai und Dezember 1931 strahlte sie jedoch 15 Sendungen zu dieser Problematik aus. Auch für die anderen neun deutschen Rundfunkprogramme ist eine deutlich erkennbare Zunahme von Weltkriegs-Themen seit Ende 1929 feststellbar. [1] Zu den bekanntesten deutschen Weltkriegs-Filmen, die zwischen 1930 und 1932 entstanden sind, zählen DIE ANDERE SEITE, WESTFRONT 1918, NIEMANDSLAND, TANNENBERG, BERGE IN FLAMMEN, DOUAUMONT, KREUZER EMDEN und, 1933 uraufgeführt, MORGENROT. Hinzu kommen noch ausländische Filme, wie John Fords FOUR SONS, ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT von Lewis Milestone oder Raymond Bernards LES CROIX DE BOIS.

Ausgelöst durch das Erscheinen von Erich Maria Remarques Roman »Im Westen nichts Neues« (1929), hatten sich die Medien verstärkt der Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs zugewandt. Und die politischen Parteien der Weimarer Republik suchten nach Konzepten, um der Weltwirtschaftskrise ökonomisch, aber auch ideologisch begegnen zu können. So begannen Parteien und Presse, die jeweiligen Darstellungen des Weltkriegs in Literatur, Hörfunk und Film für eigene Interessen zu vereinnahmen. Zunehmend bestimmten politisch-ideologische Kriterien die Bewertung eines Weltkriegfilms. [2] Das kulminierte erstmals im Verlauf der Remarque-Rezeption 1930.

1914: Eugen Klöpfer, Viktor Jensen

Die Filmproduzenten - und auch die Verantwortlichen in den Sendestudios - reagierten auf diese einseitige Rezeption, indem sie politische Aussagen möglichst vermieden. Diese Zurückhaltung erklärt sich einerseits aus der im Laufe der 30er Jahre sich verschärfenden Zensur. Andererseits hatten die Ereignisse um die Aufführung einzelner Filme, wie BRONENOSEC POTEMKIN oder ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT, gezeigt, daß wirklich oder scheinbar eindeutige politische Stellungnahmen zu historischen Ereignissen von der Mehrheit des Kinopublikums nicht gewünscht wurden. [3] Deshalb wurde in den Weltkriegs-Filmen - und, soweit bekannt, auch in den entsprechenden Hörfunksendungen - die Frage der Kriegsschuld weitgehend ausgeklammert. Denn seit dem Versailler Friedensabkommen, das Deutschland die alleinige Verantwortung für den Ausbruch des Weltkriegs anlastete, war das eine der national umstrittensten Fragen.

Bereits mit dem Titel seines Films setzt Oswald eine Markierung gegenüber anderen Weltkriegs-Filmen. Sein Akzent liegt auf der Zeit vor Ausbruch des Krieges; er betreibt Ursachenforschung, wo andere Regisseure mit ihren Filmen den Krieg heroisch verklären oder seine monströse Grausamkeit bloßstellen. »1914« ist ein Spielfilm, das historische Material ist Folie, obwohl die Drehbuchautoren Heinz Goldberg und Fritz Wendhausen eine möglichst geschichtsnahe Rekonstruktion der weltpolitischen Ereignisse anstrebten. Ihre Vorlage - und auch Oswalds Inszenierung - vermeidet Massenszenen, zeigt keine jubelnden Menschenmengen wie sie so typisch für die ersten Augusttage 1914 in ganz Europa waren. Oswald erliegt auch nicht der Versuchung, dokumentarische Aufnahmen in die Spielhandlung zu montieren. Er bemüht sich um eine möglichst sachliche, »originalgetreue« Darstellung der historischen Ereignisse. Fast unterkühlt könnte man diese Inszenierungsweise nennen, penibel in historischen Details, wenn sie auch nicht ganz fei von dramaturgischen Stereotypen ist und - da scheitert der Film - zu einer willkürlichen Episodik neigt. Dennoch ist »1914« eine Ausnahme in der Filmproduktion der Weimarer Republik, ein Film gegen die politische Vereinnahmung. Daß Oswalds Intention, wohl auch sein politisches Kalkül - eng verknüpft mit der ökonomischen Strategie des Produzenten und spekulationslustigen Regisseurs - auf Widerstände traf, ist ein Beleg mehr für das atypische Konzept dieses Films. Die Frage nach der Kriegsschuld konnte nicht ungestraft gestellt werden.

Die politische Brisanz des Themas hatte die Autoren Goldberg und Wendhausen veranlaßt, ihr Manuskript einem Vertreter des Auswärtigen Amtes vorzulegen, das in der Republik den Kriegsausbruch sozusagen politisch verwaltete. Erst nachdem von Seiten des Ministeriums keine inhaltlichen Einwände mehr erhoben wurden, begann Oswald mit den Dreharbeiten.

Die ersten Szenen: Eine Straße - Studiokulisse, wenig ausdifferenziert. Menschen, die dem österreichischen Kronprinzenpaar zujubeln. Die Schüsse von Sarajewo fallen. Der Attentäter wird von der Polizei überwältigt. Der Anfang des Films ist spektakulär, hastig. Ein Mord ist geschehen. Danach beginnt eine kriminalistische, historische Recherche. Auch ein Szenenwechsel: weg von der Straße. Beobachtet wird, was das Attentat an den Europäischen Fürstenhöfen, in den Kabinetten auslöst. Nachvollzogen wird Kopfarbeit, die zum Krieg führen wird. Wien: Die Nachricht vom Anschlag in Sarajewo wird dem Habsburger Monarchen überbracht. Der Kaiser berät sich mit seinen engsten Vertrauten, die - untereinander uneinig - den Krieg gegen Serbien fordern oder zur Mäßigung mahnen. Szenen an anderen Höfen, in anderen Regierungsgebäuden. Der Film stellt sein Personal vor: Kaiser und Könige, Regierungschefs, Minister und Botschafter, Militärs. Eine historische Bildfolge der Machthaber und der grauen Eminenzen in Europa. Das Gepränge des Petersburger Hofes wechselt mit der preußischen Nüchternheit in der Regierungszentrale der berliner Wilhelmstraße. Eine Drehbühne in Bewegung: in Schwung gehalten vom Austausch diplomatischer Noten. Auf- und Abtritte - wenig mehr. Nur manchmal schleicht sich eine Szene wie aus einem anderen Film ein: Eine Frau, die Zarin, schluchzt. Das Melodram findet an der Brandmauer statt, nicht im Bühnenrund.

Die eigentliche graue Eminenz ist der Regisseur. Richard Oswald zieht die Fäden, regiert seine Darsteller. Albert Bassermann, Heinrich George, Reinhold Schünzel, Oskar Homolka, Theodor Loos, Paul Bildt, Eugen Klöpfer, Alexander Granach - die erste Garde der deutschen Bühnen- und Filmstars - sind ihm untertan: im Korsett der Kabinettsdisziplin oder der Übereinkunft höfischen Stillschweigens.

Die Schlußszene: Jean Jaurès, französischer Pazifist, redet gegen den Krieg: in einem Restaurant - nicht bei Hof, nicht im Kabinett, auch nicht im Parlament. Er klagt die Regierenden Rußlands und Frankreichs an, wirft ihnen vor, am Krieg schuld zu sein. Schüsse fallen. Auch Jaurès wird Opfer eines politischen Attentats. Ein Wort zur Verantwortung Österreich-Ungarns und Deutschlands am Ausbruch des Krieges hat er nicht mehr sagen können. Die Frage der Kriegsschuld bleibt offen. Verstrickungen aller Potentaten Europas sind angedeutet. Aber dieser Filmschluß steht dennoch konträr zur offiziellen politischen Meinung, zum Wortlaut des Versailler Vertrages. Eine Rekonstruktion ist zuende gebracht, ohne eindeutiges Resultat. Oswalds Haltung findet sich allenfalls im Subtext: Das erste Opfer des Krieges ist ein Pazifist, der einzige, der nicht lavierte, der kein Diplomat war. Verloren haben die Menschen auf der Straße, die nur zuschauen und jubeln. Der Kreis schließt sich. Die Komparsen der Geschichte haben (noch) nichts zu sagen.

1914: Oskar Homolka, Hans Peppler

Im Dezember 1930 führte Oswald den Film der Filmprüfstelle vor. Die Vertreter des Auswärtigen Amtes äußerten Einwände; der Film wurde in der vorgelegten Fassung verboten. Sie argumentierten, die Darstellung der Kriegsschuldfrage sei lückenhaft und »die Tendenz des Films geeignet, die Beziehungen Deutschlands zu anderen Staaten zu trüben«. [4] In der Verhandlung konnte Oswald zwar darauf verweisen, daß das Drehbuch dem Ministerium zur Begutachtung vorgelegen habe und genehmigt worden sei, doch die Sachverständigen des Auswärtigen Amtes erklärten, der vom Regisseur konsultierte Beamte sei inkompetent gewesen. Nach dieser Entscheidung mußte Oswald Kürzungen vornehmen, Szenen und Dialoge nachdrehen und schließlich dem Film noch einen Prolog voranstellen. Als Autor und Sprecher dieses Vorspruchs verpflichtete er Dr. Eugen Fischer, Reichstagsbibliothekar und ehemaliger Generalsekretär im Kriegsschuld- Untersuchungsausschuß des Reichstages. In seiner Einführung legte Fischer im wesentlichen die offizielle Auffassung des Auswärtigen Amtes vom Kriegsausbruch dar. Wolfgang Petzet polemisierte nachträglich: »Wie (der Krieg) aber nun eigentlich ausgebrochen ist oder auch nur - mehr wäre unbillig zu verlangen - wie ein unabhängiger Forscher über seinen Ausbruch denkt, das wird aus einem Filme ganz gewiß niemand erfahren, an dem 1. Richard Oswald, Sachverständiger für Publikumsgeschmack, 2. die Herren Goldberg und Wendhausen, Sachverständige für wirksame Filmmanuskripte, 3. der inkompetente Sachverständige des Auswärtigen Amtes Nr. 1, 4. die kompetenten Sachverständigen des Auswärtigen Amtes Nr. 2ff., 5. Dr. E. Fischer, nachträglich für die richtige Vor-Einstellung zugezogener Obersachverständiger, miteinander, gegeneinander und vor allem durcheinander zusammengearbeitet haben.« [5]

Der Einspruch des Auswärtigen Amtes bei der Filmprüfstelle führte bereits im Vorfeld der Uraufführung in der Presse zu heftigen Auseinandersetzungen. Sinn und Zweck der Filmzensur wurden angezweifelt oder verteidigt. Die Diskussionen waren eine kostenlose Reklame für den Film. Die Uraufführung, die in Anwesenheit zahlreicher Politiker und Behördenvertreter stattfand, war schon Tage zuvor ausverkauft.

Doch das Presseecho fiel überwiegend negativ aus, obwohl das Premierenpublikum den Film mit viel Beifall bedacht hatte. Auch Zeitungen, die sonst über Kinoereignisse kaum berichteten - etwa die »Deutsche Zeitung« - hatten Kritiker in die Premiere geschickt. Fast alle Rezensenten urteilten politisch, obwohl bekannt war, daß die entscheidenden Aussagen des Films vom Auswärtigen Amt vorgeschrieben waren. Oswald hatte außerdem den Schwerpunkt des Geschehens nach Rußland an den 1917 entmachteten Zarenhof verlegt, um so den streitenden Parteien nicht zusätzliche Angriffspunkte zu liefern.

Wieder einmal hatte Oswald einen Zeitnerv getroffen. Sein Gespür für publikumswirksame Stoffe sicherte ihm und seinen Filmen die tagespolitische Aufmerksamkeit. Demokratisches Engagement wird man Richard Oswald dabei nicht absprechen können. Aber 1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND blieb ein Film ohne Folgen, die Auseinandersetzungen verebbten schnell. In Berlin stand der Film nur 16 Tage auf dem Spielplan. Im Vergleich zum Gesamtprogramm des ersten Halbjahres 1931 war er nur mittelmäßig erfolgreich; verglichen mit Spielfilmen ähnlichen Sujets zählte »1914« zu den erfolgreichsten Produktionen im Jahr 1931.


  1. Es gibt zur Zeit noch kein exaktes statistisches Material über die zahlreichen Hörfunksendungen zu Weltkriegs-Themen.
  2. Der Abend, Spätausgabe des Vorwärts, schrieb beispielsweise über DIE SOMME. DAS GRAB DER MILLIONEN von Heinz Paul: »Es bedürfte nur weniger Schnitte, und man hätte das Material für einen Kriegsfilm, der zugleich ein Antikriegsfilm wäre. Denn noch ein paar Kulturbildchen aus der Etappe, in der die Herren Offiziere schlemmen, und aus dem Vaterland, in dem derweilen die Industriellen hochschnellen - und der wahre Kriegsfilm wäre fertig.« (30.4.1939). - Nach der deutschen Erstaufführung von LES CROIX DE BOIS am 20.9.1932 versuchte die NSDAP den Film verbieten zu lassen. In der Begründung des Verbotsantrags heißt es: Der Film zerstört »die Grundlagen jeder nationalen Selbstbehauptung«, er vernichtet den »Glauben an die Führung«, schmäht »die Geschichte und Vergangenheit« und zieht »alles Wehrhafte und Große in den Dreck«. (Zitiert nach: Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Reichsministerium des Inneren Nr. 19070. Staatliches Filmarchiv der DDR, Ufa-Akte 18).
  3. Vergleiche dazu: Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Deutsche Bank Nr. 19070. Staatliches Filmarchiv der DDR, Ufa-Akte 18.
  4. Wolfgang Petzet: Verbotene Filme. Eine Streitschrift. Frankfurt: Societäts-Verlag 1931, S.83-84.
  5. ibid.


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