Reihe CineGraph Buch

Johannes Roschlau 
(Red.)
Im Bann der Katastrophe

Innovation und Tradition im europäischen Kino 1940-1950

Johannes Roschlau:
Schatten des Krieges



Liebe 47
(D 1948/49, Wolfgang Liebeneiner)
Quelle: Gesellschaft für Filmstudien e.V., Hannover


Schatten des Krieges

Der vorliegende Band führt die mit dem CineGraph-Buch »Träume in Trümmern« begonnene Auseinandersetzung mit der Filmproduktion der 1940er Jahre in Europa fort. Standen dort die Formen filmischer Propaganda und ideologischer Beeinflussung sowie die Vermittlung von Rollenmodellen und Geschlechterbildern im Mittelpunkt, so gilt das Interesse hier den filmkünstlerischen Mitteln, den ästhetischen und erzählerischen Strategien der Filmmacher und den unterschiedlichen Faktoren, die ihre Entwicklung in einer Zeit des allgemeinen Ausnahmezustands mitbestimmten.
Dem erprobten Grundkonzept, die deutsche Filmproduktion zwischen 1940 und 1950, also des Zweiten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit, gemeinsam in den Blick zu nehmen und durch alle sozialen und politischen Veränderungen hindurch auf ihre Kontinuitäten und Brüche zu untersuchen, folgen vor allem Beiträge zur Genre- und Motivgeschichte. Eine Analyse deutscher und österreichischer Kriminalfilme der 1940er Jahre offenbart dabei das erstaunliche Beharrungsvermögen inhaltlicher Grundkonstellationen und ideologischer Zuschreibungen in gegensätzlichen Gesellschaftssystemen. Der allgegenwärtige Mangel an lebensnotwendigen Dingen und der Zwang zur Resteverwertung lassen sich als Motive im Dokumentar- und Spielfilm der Dekade ebenfalls durchgehend und in ähnlicher Funktion nachweisen. Die Entwicklung des deutschen Animationsfilms stellt sich dagegen als Aufstieg und Niedergang eines nationalsozialistischen Prestigeprojekts dar.
Der Großteil der hier versammelten Texte beschäftigt sich auf unterschiedliche Weise mit den Reflektionen deutscher und europäischer Regisseure über die Erfahrungen von Krieg und Nachkrieg. Sie sondieren also gewissermaßen die künstlerischen Lösungen für die filmische Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung in den ersten Nachkriegsjahren und beleuchten dabei das Verhältnis von filmästhetischer Tradition und Innovation in den verschiedenen Varianten des sogenannten »Zeitfilms«. Die Kriegszeit ist somit zweifach präsent: als Stofflieferant und als stilistischer Status quo vor der angeblichen »Stunde Null«.
Die grundlegenden Fragen, vor denen die Regisseure der unmittelbaren Nachkriegszeit standen, waren: Wie erzählt man von einer Zeit, die geprägt ist von einer neuen Qualität militärischer Auseinandersetzung und ideologischer Konfrontation, von bisher ungekanntem Vernichtungswillen und beispiellosen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen? Setzt man dabei auf die hergebrachten Genremuster und Erzählstrategien oder entwickelt man aus den spezifischen Erfahrungen dieser Zeit eine adäquate Ästhetik, in der sich die tiefgehenden Brüche in der Lebenswelt des europäischen Menschen auch stilistisch manifestieren?
Die individuellen Antworten der Filmschaffenden auf diese Fragen sind natürlich stets im Kontext der besonderen politischen und ökonomischen Bedingungen der Zeit zu sehen, die ihre künstlerischen Entscheidungen zum Teil erheblich beeinflussten.
Die Beiträge des Bandes nähern sich dem Thema aus deutscher wie aus internationaler Perspektive. Sie untersuchen die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Holocaust im deutschen, österreichischen und polnischen Film, verfolgen die filmischen Versuche zur Bewältigung der NS-Okkupation in Frankreich und Dänemark und zeichnen die »Ausweichmanöver« der Nachkriegsfilme von G. W. Pabst nach. Ein neuer Blick auf die spezifische Raum- und Zeit-Konstruktion im deutschen »Trümmerfilm« wird ergänzt durch eine Analyse und Funktionsbestimmung seiner US-amerikanischen Variante.
Ein abschließendes »Nachspiel« schlägt einen Bogen zur Gegenwart und zeigt, wie die Arbeitsbedingungen für Filmhistoriker, die zur Produktion der NS-Zeit forschen, auch heute noch von den Nachwirkungen des Krieges beeinträchtigt werden. Der Beitrag behandelt die Bestände des 1935 gegründeten Reichsfilmarchivs, ihre Beschlagnahme durch die Siegermächte und die erfolglosen Bemühungen um die Rückgabe des Großteils der Kopien aus dem moskauer Gosfilmofond. Die filmhistorische Forschung zu den 1940er Jahren, die hoffentlich auch durch diesen Band neue Anregungen erfährt, ist also auch nach 65 Jahren immer noch ganz konkret mit den Schatten des Krieges konfrontiert.

Johannes Roschlau


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