Reihe CineGraph Buch

Johannes Roschlau 
(Red.)
Europa im Sattel

Western zwischen Sibirien und Atlantik

Johannes Roschlau:
Die Neue Welt in der Alten



Der Schatz im Silbersee
(BRD/YU/FR 1962, Harald Reinl)


Die Neue Welt in der Alten

Als der Kientopp Ende des 19. Jahrhunderts ans Licht der Öffentlichkeit trat, ging in Amerika die Zeit des »Wilden Westens« gerade zu Ende. Auf der Leinwand lebte seine Legende jedoch fort. Kaum hatte sich der Western als Genre etabliert, schaute auch schon das Kino-Publikum in Europa gebannt über den großen Teich und folgte fasziniert den Geschichten um Cowboys und Indianer, Trecks und Trapper. Ihre Popularität animierte englische und französische Regisseure bald zur Produktion eigener Versionen. Damit begann die zeitweilig äußerst produktive Auseinandersetzung europäischer Filmschaffender mit dem amerikanischsten aller Genres. Vom Ural bis zum Atlantik, von Finnland bis Sizilien kämpfen und schießen sich die vertrauten Protagonisten seitdem auch durch die Alte Welt, die dabei meist vorgibt, die Neue zu sein.
Seit über 100 Jahren adaptieren, parodieren und dekonstruieren immer neue Generationen von Regisseuren die Themen, Motive und Erzählstrategien des Western. Das Ergebnis: Ein schillerndes Spektrum verschiedenster Aneignungsformen zwischen Nachahmung und postmoderner Neuinterpretation. Die Heterogenität der Genre-Varianten, die sich als europäische Western deuten lassen, macht gerade den besonderen Reiz dieser Filme aus, spiegeln sich in ihr doch die vielfältigen künstlerischen, ökonomischen und politischen Motive, die Regisseure in verschiedenen Zeiten, Ländern und Gesellschaftssystemen dazu animierten, sich mit dem Western einzulassen.
Der vorliegende Band vereint Beiträge von Film-, Literatur- und Kulturwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, Italien, England, Russland und Tschechien, die einen Teil dieser Vielfalt erfassen und in seinen konkreten Ausprägungen analysieren. Er soll aber auch ein erster Schritt dazu sein, die unterschiedlich intensiv erforschten nationalen Traditionen der Genre-Aneignung auf Gemeinsamkeiten und Schnittmengen hin zu untersuchen und damit Kriterien zu erarbeiten, die eine Definition des noch relativ unbestimmten Phänomens »Euro-Western« und seine Abgrenzung gegenüber dem »Mutter-Genre«, aber auch anderen globalen Spielarten ermöglichen können.
Welche Faktoren für die erheblich schwankende Quantität und Qualität der europäischen Western-Produktion im letzten Jahrhundert hauptsächlich verantwortlich waren, zeichnet sich bei einer Zusammenschau der Beiträge in Umrissen ab. Neben einer grundlegenden Affinität zum Genre bei den Filmschaffenden und seiner enormen Popularität bei den Zuschauern quer durch den Kontinent waren dies vor allem ökonomische und ideologische Motive. Die Produzenten zielten mit der oft seriellen Herstellung ihrer europäischen Surrogate auf das Unterhaltungsbedürfnis des Massenpublikums und reüssierten vor allem dann, wenn das amerikanische Original aus unterschiedlichsten Gründen auf dem nationalen Markt nicht präsent war. Da der Western wie kein anderes Genre die amerikanischen Gründungsmythen und Archetypen repräsentiert, erforderte die Verwendung seiner Stilmittel und Muster zudem immer auch eine ideologische Positionsbestimmung gegenüber der historischen und aktuellen Politik der USA.
So waren die ersten deutschen Aneignungsversuche, die 1918–21 entstandenen »Isar-« und »Neckar-Western«, als schnell und billig produzierte Nachahmungen vor allem deshalb erfolgreich, weil es beim Publikum durch das kriegsbedingte Einfuhrverbot amerikanischer Filme einen Nachholbedarf gab und den US-Western der Zugang zum Markt zunächst weiter versperrt war. Die Blütezeit des deutschen und italienischen Western in den 1960er Jahren wurde dagegen ermöglicht durch die krisenhafte Entwicklung der amerikanischen Filmindustrie. Ideologisch setzten die westdeutschen Karl May-Filme auf die idealistischen Völkerverständigungsfantasien des populärsten deutschen Western-Autors, während die ostdeutschen DEFA-»Indianerfilme« die Beliebtheit des Genres nutzten, um das Publikum über den Kampf der amerikanischen Ureinwohner, über Kapitalismus und Imperialismus der weißen Eroberer zu aufzuklären. Die Italo-Western entwarfen ein zynisches Gegenmodell zum Weltbild des US-Western und kritisierten gleichzeitig im Einklang mit dem antiimperialistischen Zeitgeist der späten 1960er Jahre die amerikanischen Interventionen in Vietnam und Südamerika. Auch Regisseure des Jungen Deutschen Films griffen in ihren »linken« Heimatfilmen über historische Outlaws auf Versatzstücke des Genres zurück. In der Sowjetunion wurde der überwältigende Erfolg eines einzigen amerikanischen Western zur Initialzündung für die Produktion »historischer Abenteuerfilme«, die mit der typischen Ikonografie des Genres sowjetische Geschichtspropaganda verbreiteten. Die Produktion eines Western war in der ÈSSR dagegen erst nach der Liberalisierung der Kulturpolitik Anfang der 1960er Jahre möglich, jedoch auch dann nur als musikalische Parodie mit antikapitalistischen Untertönen.
Die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen den verwendeten Western-Elementen und europäischen Traditionen und Stilmitteln in den »Euro-Western« ist ein weiterer Aspekt, der sich in unterschiedlicher Weise ebenfalls durch alle Beiträge zieht. Explizit wird sie verhandelt anhand des Auftauchens von europäischen Gothic- und Horror-Elementen im Italo-Western und der Integration von Western-Versatzstücken in Produktionen des Neuen österreichischen Films.

Johannes Roschlau


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