FilmMaterialien 4 - Olga Tschechowa

Stummfilm - Tonfilm - Theater

von Olga Tschechowa
in: Stuttgarter Neues Tageblatt / Abendausgabe, 14./15.11.1931

Man kann keine Parallele zwischen Theater, Stummfilm und Tonfilm ziehen. Man kann es vom schauspieleri-schen Standpunkt aus nicht, denn diese drei Künste sind völlig verschieden und lassen sich in keiner Weise miteinander vergleichen.

An Konzentrationsvermögen, an Nerven und Energie stellt der Tonfilm die höchsten Anforderungen an den Darsteller. Es mag paradox klingen, aber dieser gebieterische Zwang zur Konzentration ist eine Folge der Zersplitterung der schauspielerischen Hingabe. Um ganz klar auszudrücken, was ich meine: Beim Tonfilm wird viel zerrissener gearbeitet als beim Stummfilm. Hier spielte man eine Szene durch, in dieser Einstellung, in jener Einstellung - die Schere des Regisseurs sorgte später für die Zusammenfassung des Wesentlichen. Jetzt wird nur das Wesentliche aufgenommen, eine Gefühlsäußerung, an die man beispielsweise dreißig Meter Stummfilm wandte, wird nun auf zwölf Meter Tonfilm konzentriert. Man lebt sich nicht mehr hinein in seine Aufgabe, man ist dem Moment ausgeliefert, und dieser Moment muß ohne Anlaufzeit voll ausgeschöpft werden. Der Tonfilm verlangt weit mehr als der stumme Film, mit der ganzen Kraft seines Ich immer "da zu sein".

Ich denke da an zwei Szenen in DIE NACHT DER ENTSCHEIDUNG, die wir ohne Unterbrechung durchgehend drehten. Soweit ich mich erinnere, war jede dieser Szenen etwa 160 Meter lang. Dank der fahrbaren Kamera, die rückwärts und vorwärts fuhr, beliebig geschwenkt wurde und aus dem Bild die vielfältigsten Einstellungen herausholte, konnten wir die Szene durchspielen, ohne daß wir auch nur einen Moment unterbrochen wurden. Die Gartenszene wurde nach ein paar Proben viermal aufgenommen, um der technischen Tadellosigkeit sicher zu sein. Zuerst war ein kleiner Fehler im Ton, dann hatte der Aufnahme-Apparat ein kleines Geräusch verursacht, das drittemal war nichts zu beanstanden, und die vierte Aufnahme wurde zur Sicherheit gemacht. Conrad Veidt und ich haben diese Szene mit der äußersten Hingabe gespielt - nachher waren wir beide allerdings vollständig erschöpft.

Und hier macht sich wieder der Unterschied zwischen Tonfilm und Theater besonders kraß bemerkbar. Im Film nehmen diese 160 Meter etwa fünf Minuten Zeit in Anspruch. Diese fünf Minuten bedeuten dem Schauspieler eine Ewigkeit. Zwanzig Minuten Bühnenspiel dauern für ihn nicht so lange, wie fünf Minuten Tonfilmspiel.

Das Theater ist lebendiger Ansporn, mag das Publikum enthusiastisch oder ablehnend sein. Ein begeistertes Publikum gibt beglückende Anregung, ein widerstrebender Zuschauerkreis fordert den schöpferischen Widerspruchsgeist heraus. Im Tonfilmatelier fehlt diese Anregung. Ein Dutzend kritischer Augenpaare zergliedern den Menschen vor der Kamera. Der Beleuchter sieht ihn vom Standpunkt des Lichts, die Garderobiere inspiziert Schminke, Frisur, Kleidung, der Requisiteur achtet auf die Korrektheit der Requisiten, den Kameramann interessiert nur die Bewegung, dem Tonmeister ist alles gleichgültig bis auf den Ton. Gegen dieses erkältende Gefühl des Seziertwerdens muß man ankämpfen. Man umgibt sich unbewußt mit einer Abwehrhaut. Es kostet Nerven, diese unsichtbaren Igelstacheln zum Verschwinden zu bringen und sich in seine Aufgabe zu versenken.

Tonfilm ist ebenso entfernt vom Theater wie vom stummen Film. Niemals darf das Wort so verschwendet werden, wie auf der Bühne. Man sollte weniger fragen, weniger erklären - das Filmpublikum will seine Phantasie mitschaffen lassen, wie es dies vom stummen Film her gewohnt ist. Es ist schon ein Wagnis. "Ich liebe dich" zu sagen, aber es ist unmöglich, zu sagen, "Ich liebe dich, weil..." oder zu fragen: "Warum liebe ich dich?" Die Stille ist oft beredter und eindringlicher als hundert Worte. Und darum finde ich die Schlußszene des Films "Die Nacht der Entscheidung" so schön, in der ein Blick, das Neigen eines Kopfes mehr ausdrückt, als Küsse oder Worte. Denn seelische Hochspannung bedingt Schweigen.


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