FilmMaterialien 5 - Phil Jutzi

Zurück zum Film!

S. M. der Ton

Von Piel Putzi

in: Film-Kurier, Sondernummer, 1.1.1931


Seit einem Jahr macht man nun sogenannte 100%ige Tonfilme. Man ist heute mit wenigen Ausnahmen nicht sehr viel weiter damit gekommen. Die Auseinandersetzungen mit dem »Ton« sind höchst wichtig. Es ist jetzt Zeit, sich bewußt zu werden, daß man stehenzubleiben droht, besser gesagt, daß man in eine Sackgasse geraten ist.

Im Anfang war das Bild!

Film war - ist - und wird Bild bleiben.

Der Ton kam zu ihm. Oft muß man leider sagen »aber was für einer«. Man stellte ihn vor das Bild, ließ ihn »reden«, schreien, »singen« und »Geräusch« machen, erschreckt und verschämt verkroch sich das Bild - es war zu feinnervig dazu. Neugierig kamen die Leute und klatschten und merkten nicht, wie man den Film und die neue Erfindung, den Ton, vergewaltigte. Schließlich aber als die Neuheit vorbei, fühlten sie die Hohlheit und blieben fern. Große Verwunderung! Ganz wenige besannen sich, erinnerten sich des Bildes und bauten neu auf.

Sie waren nicht damit zufrieden, daß der »Ton« in einigen wenigen großen Theatern vielleicht fast einwandfrei kam, aber in hunderten kleinen Theatern zur schrecklichen Ohren- und Nervenquälerei wurde.

Der »Ton« muß dem Bild untergeordnet werden, vorläufig noch unbedingt. Er ist noch nicht mündig - mag es an Aufnahme oder Wiedergabe liegen. Gewiß kann er auch selbständig werden, sogar unerhört steigern, aber nur in sorgsam erwogenem Falle, wo wir mit Sicherheit erwarten können, daß er seine Sprache nicht bloß stammelt, sondern auch beherrscht. Was man öfter sieht und hört, das sind eher schlecht photographierte Hörspiele. Sind wir denn alle Lakaien geworden, die in die Knie sinken vor S. M. dem »Ton«, oder haben wir uns von ihm eindudeln lassen?

Oft ist es auch bequem, einen Mißerfolg dem Ton oder dem Tonmeister in die Schuhe zu schieben. Wir haben den Film gemeistert, sollten wir nicht auch den Ton meistern lernen?
Es wird endlich Zeit.

Film ist das Resultat eines Zusammenspiels verschiedenster Instrumente. Autor, Regisseur, Operateur spielen auf dem kompliziertesten Instrument, dem Menschen selbst. Alle müssen Könner sein und ein Orchester bilden. Der Ton darf keinesfalls den Ton angeben.

Darf es übrigens auch nicht auf der kaufmännischen Seite werden. Mag seine Macht noch so groß sei. So wird er eines Tages mit uns zusammen pleite gehen.

Die Tyrannei des Tones hat in jeder Beziehung aufzuhören.

Wie ist es möglich, daß eine an sich großartige Erfindung, die aber, wie alle zugeben werden, noch nicht vollkommen bis ins Letzte fertig ist, eine andere, ebenso große Erfindung, die bis ins Feinste vervollkommnet und ins Künstlerische gesteigert wurde, so sehr attackiert.

Sollen wir umsonst zehn Jahre lang den Film geschaffen haben? Wir dürfen nicht dort neu beginnen, wo wir schon einmal begonnen haben, dort wo wir beim stummen Film aufgehört haben, müssen wir weiter bauen, dort wo der stumme Film angeblich gestorben ist. Wenn er tot wäre, wir selbst hätten ihn erdrosselt.

Scheintot liegt nicht der stumme Film, sondern der Film.

Bildlich ist die Filmhandlung verständlich zu machen. Die Dialoge müssen auf das äußerste beschränkt werden, schon wegen der Internationalität des Films. Lange Dialoge sind gegen seine Natur, erzeugen Langeweile und sind für den Zuschauer außerordentlich anstrengend zu hören. Selbst bei einem so hervorragenden Schauspieler und einzigartigen Sprecher wie George sind dem Dialog engste Grenzen zu setzen.

Monologe sind im Tonfilm überhaupt unmöglich. Es ist nicht zu glauben, ich habe mehrmals im Kino gesessen bei Tonfilmen, die ich zum ersten Male sah, ich schloß die Augen und verstand, sofern überhaupt etwas zu verstehen war, ganze Akte des Films. Ist das Film?

Die sparsamen Dialoge müssen individuell dem Sprecher angepaßt werden. Man zwinge um Gottes Willen keinem Schauspieler einen Satz auf, der ihm nicht liegt. - Proben - Vorbereitungen. Beweglich, nicht starr festhaltend am Manuskript muß der Tonfilm entstehen. Das soll aber nicht heißen, daß improvisiert werden soll.

Stoffe - es ist gleich, was man bringt, es kommt immer nur darauf an, wie es gebracht wird, aber packen muß es, das Herz oder das Zwerchfell und Geist muß es haben. Jeder Stoff kann so gebracht werden, daß er interessiert.

Die Montage im Tonfilm darf nicht so behandelt werden, als ob es nie eine gegeben hätte. Wo man gezwungen ist, breit zu werden, da muß sie mit allergrößter Sorgfalt sinnvoll angesetzt werden, selbstverständlich muß dazu das stumme Material geschaffen werden.

Jedes Handlungsdetail muß klarer im Gehirn vorhanden sein, als es je im Drehbuch ausgearbeitet werden kann und trotzdem muß eine gewisse Elastizität dabei sein - Vorbereitung. Autor und Regisseur müssen eng zusammenarbeiten. Der Regisseur muß die Kamera nicht bloß »kennen«, sondern beherrschen. Er muß nicht nur mit der Tonkamera zu seinem Publikum sprechen können. Die Bildkamera muß ebenso - ja eindringlicher reden können, wie ihre Halbschwester, die Tonkamera.

Der Bildrhythmus muß stärker tönen als die schmissigste Jazzband.

Die Dynamik einer marschierenden Kolonne nerviger dröhnen als dreißig magere Komparsenbeine im Synchronisations-Atelier. Immer abgesehen vom Spiel der Darsteller, das - wie gesagt - immer gut ist.

Was wir sehen, sind lächerlich verlogene, widerlich verbogene Liebesgeschichten, deren Wirklichkeit nicht glaubhaft, sondern unglaubhaft ist. Was wir sehen, sind - zugegeben, aber was sagt das! - spannende Kriminalfilme mit Handlungen, über deren Wirklichkeitsgehalt ich gern einen erfahrenen Kriminalkommissar hören möchte. Was wir sehen, sind Filme, deren Tendenz, wenn sie eine haben, stets und um jeden Preis eine höchst komische Mitte zwischen Kommunismus und Demokratie innehält und etwa einen Weltfrieden im Sinne des Völkerbundes vertritt, d.h. also einen Weltfrieden mit Hintertüren für den nächsten Weltkrieg. Was wir sehen, sind mondäne Luxusfilme wie DIE SINGENDE STADT mit Menschen und Ausstattungen jenseits aller Vernunft, mit Handlungen, an denen nichts weiter zu bestaunen ist als vielleicht die Virtuosität eines Regisseurs. Was wir sehen, sind Militärfilme der Vorkriegszeit wie DREI TAGE MITTELARREST, Filme, in denen der deutsche Soldat so dasteht, als sei er einem komischen Roman des Freiherrn von Schlicht entsprungen, wobei man sich nur fragt, wie diese Offiziere und Soldaten auch nur einen Tag des Weltkrieges standhalten konnten. Was wir sehen, sind Kriegsfilme, in denen das Grauen des Krieges bis zur äußersten Sinnlosigkeit gehäuft ist oder in denen der frisch-fromm-fröhlich-freie Krieg seine ebenso ekelhaften Bocksprünge vollführt.

Wenn man in einen Film geht, geht man meist um des Schauspielers willen hin und nimmt das Stück in Kauf. Das Stück gibt dem Schauspieler Anlaß zum Spiel und besitzt oft keine Eigenbedeutung. Irgendeine Lilian oder Pola oder Lien oder Liane oder Grit, irgendein Roman oder Douglas oder Harry ist entscheidend. Mit ihnen steht der minderwertigste, ohne sie fällt der beste Film. Der Star ist Trumpf, zuweilen die - gängige Tendenz.

Es ist, wie gesagt, die Vorstellung des Geschäftsmanns, daß dies alles so sein muß, weil sonst nach dieser selben Vorstellung niemand mehr in den Film gehen würde. Es muß ein WIEN, DU STADT DER LIEDER sein mit sentimentalen und ulkigen Szenen und bestimmten Schauspielern, die sich an ihnen produzieren - oder es ist nichts möglich. Das Publikum will das haben. Man gibt dem Publikum, was es haben will. Es mag sein, daß das Publikum, diese dümmste Form des im dunklen Raum versammelten Menschen, so etwas haben will. Indes wäre es zu überlegen, ob es in dieser Zeit, in der so viel vom »Kulturbolschewismus« geredet wird, nicht ratsam wäre, sich einmal die Tatsache näher zu betrachten, daß der Film ein Bestandteil unserer Kultur sein könnte, wie einige Filme beweisen. Demgemäß wäre es an der Zeit, entsprechende Forderungen zu stellen und sie zu erfüllen. Heute ist der Film in seiner Hauptmasse ein besserer oder schlechterer Unterhaltungsfaktor des gelangweilten Publikums, das seine Abende totschlagen will.

Freilich sieht man aus den zehn Jahren seit 1918, daß es mit den seitdem herrschenden Anschauungen nicht weiter geht als bis zu dem Zustande, den wir heute erreicht haben: In Wien hab' ich einmal ein Mädel geliebt - Der Herr auf Bestellung - Ein Burschenlied aus Heidelberg - Zapfenstreich am Rhein - Ich glaub' nie mehr an eine Frau - Drei Tage Liebe.

Die Zeit seit dem Weltkrieg ist die trächtigste, die zerrissendste, die drohendste, die von Kampf, Ungewißheit, furchtbarstem Ernst, Erbitterung, Sterben, Geburt, Schrei, Umwälzung erfüllteste Zeit, die seit Jahrhunderten über die Welt dahingegangen ist und noch hinstampft und hinrasen wird. Sieht man die deutschen Filme und die Filme, welche in Deutschland gespielt werden, so kann man der frisch-fromm-fröhlichen Meinung sein, es gehe in der Welt wundervoll zu, abgesehen von verlogenen Privatgefühlchen gelangweilter Luxusmenschen und von verbrecherischen Kriminalspannungen.

Wir haben den Film für das Publikum um des Geschäftes willen, das nur die erprobten Wege gehen will. Wir haben den Film als Unterhaltungsfaktor und als Zeitvertreib. Wir haben den Film abseits der Zeit. Wir haben dabei das Gefühl, als ob jemand vergnüglich seinen Kaffeetopf über einen Krater hält. Es ist keine Frage, daß, nachdem die in Deutschland seit dem Kriege maßgebende offizielle regierende Meinung aus dem Film nichts anderes zu machen gewußt hat als diesen heutigen Film, der sich selbst und dem Gelderwerb überlassen blieb, daß nur der Wurzelgrund jeglicher Kultur hier einen Wert zu schaffen vermag, nämlich die bisher mit Bedacht vernachlässigte Nation, der China seine chinesische Kunst, Rußland sein russisches Theater, Frankreich seine französische Malerei verdankt. Deutschland hat heute weder ein Theater noch einen Film, noch eine Malerei, sondern es hat gute Schauspieler, schlechte Stücke, fragwürdige Bilder, atonale Musik. Alles, was tatsächlich in dieser Beziehung international ist, nämlich die Mache, die Technik, das ist gut in Deutschland. Und alles, was national ist, das ist schlecht in Deutschland, nämlich alles Wesentliche.


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