FilmMaterialien 5 - Phil Jutzi

Alexanderplatz als Filmkulisse

in: Film-Kurier, Nr. 130, 6.6.1931


An einem frühen Morgen fuhr ein Wagen wie viele andere zum Alexanderplatz. Sechs starke Männer begannen seinen Inhalt abzuladen. Sie errichteten zwischen Tietz und Lehrervereinshaus eine riesige Bretterwand und stellten, einige Meter Raum lassend, Verkehrspfeiler und Holz-Barrieren auf.

Dann nahmen sie Farbe und Pinsel - die Bretterwand verkündete jetzt ihren Zweck: Achtung, Baustelle! Bauzaun! Vorsicht! usw ...

Das war 8 Uhr. Der Wagen fuhr in eine Nebenstraße des Alexanderplatzes. Eine halbe Stunde später brauste ein mächtiger Sechszylinder in diese Gegend. Ein dicker Herr mit blankem Zylinderhut stieg aus und stellte sich gerade vor dem Bauzaun auf, wollte etwas auspacken, sah schnell zum bewölkten Himmel, schüttelte den Kopf, packte nicht aus, verschwand im Wagen, fuhr zwei Schritte, um dann endgültig in einem dunklen Hauseingang unterzutauchen.

Dann kamen plötzlich sehr viele Autos, alle hintereinander, wie ein Karawanenzug. Sie führten Apparate und große, viereckige, mit Silberpapier beklebte Platten mit sich. Sie hielten ebenfalls vor dem dunklen Hauseingang und begannen abzuladen.

1 Uhr: Heinrich George, Inhaber des bereits um 9 Uhr aufgetauchten und erwähnten Zylinderhutes, wartet hier auf sein Debut. Auf sein Debut als garantiert echter Krawatten-Händler. Er hatte etwas zum Wohle der Menschheit erfunden: einen wundervollen Schlipshalter, der es jedem ermöglicht ...

1 Uhr 15: Seit beinah 5 Stunden wird hier auf Sonne gewartet. Schwieriger Krawatten-Verkauf, der nur bei Sonne stattfinden darf. Warten in einer völlig ausgeräumten Wohnung, die an ehemalige Kriegszeiten erinnert. Heruntergerissene Tapeten, eingebrochene Wände und heraushängende Türrahmen tragen nicht zur Erhöhung der Stimmung bei. Vor einem Fenster, das wohl die schönste Aussicht auf den Berliner Alexanderplatz vermittelt, steht von einem Kreis umgeben, die Kamera und wartet darauf, das Lebensschicksal Franz Biberkopfs wieder einzufangen.

Sie wartet, mit ihr ihr Meister Farkas, der Produktionsleiter Dr. Szekely, der Regisseur, der Aufnahmeleiter, das Mikrophon, die Komparsen und - der Bauzaun dort drüben ...

Plötzlich - Donnerwetter - richtige Sonne ist da! Blitzschnell, das ist doch sonnenklar, eilt Heinrich George zu seinem Standort.

Jetzt geht's los:

»Nu, uffjepaßt, Damen wie Herren, warum soll der feine Mann Schlipse tragen und der Prolet trägt keene - Ja. Damen wie Herren, weil er se nich binden kann - det wird jetzt allens anders mit meinem Orjinal garantiert, patentierten Schlipshalter »Trumpf«. Ein Stück for zwanzich, drei for fuffzich. Koofen Se schnell, später tut's ihnen leid!«
Um George bildet sich eine große Menschenmenge. Alle hören zu. Ein paar echte Lausejungen werfen ein paar saftige Bemerkungen dazwischen - alle hören zu, meckern mit, aber keiner erkennt Heinrich George.

Und das haben die Allianzleute gewollt; denn nur so konnte es klappen. Denn nur so konnte Farkas die Szene festhalten, denn nur so konnten die Zuschauer Biberkopfs sich richtig benehmen.

Fünf Minuten dauerte der ganze Krawattenspuk! Fünf Stunden Warten - für fünf Minuten Drehen - fünf Minuten Drehen für sechzig Sekunden - die später im Film zu sehen und zu hören sind.

Etwas hat George wohl gestaunt, daß ihn kein Mensch erkannt hat. Kunst der Maske? Vielleicht! - Schicksal des wirklich Prominenten, in solchem Fall nie erkannt zu werden!


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