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Gertrud David - Regisseurin, Produzentin

Biografie

siehe auch: Filmografie

Gertrud Swiderski wird am 25. Dezember 1872 in Leipzig geboren. Sie ist das älteste von vier Kindern des wohlhabenen Maschinenbaufabrikanten Philipp Swiderski und seiner Frau Helene, geb. Schlenk. Ihr Vater, der persönliche Kontakte zum sächsischen Königshaus und anderen Mitgliedern des deutschen Hochadels pflegt, versteht sich als Anhänger der Monarchie. Es muß daher für ihn schmerzlich gewesen sein, als seine Tochter im April 1896 den sozialdemokratischen Zeitungsredakteur und späteren freien Schriftsteller Dr. Eduard David heiratet. Auch er stammt aus einem monarchistischen Elternhaus, schließt sein Philologie-Studium mit einer Promotion ab und tritt als Gymnasiallehrer in den Staatsdienst ein. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 verschreibt er sich jedoch als Herausgeber und Redakteur von Parteizeitungen in Gießen und Mainz der Sozialdemokratie, was die Kündigung seiner Beamtenstelle nach sich zieht.

Während sich Gertrud David, aufbauend auf ihren Besuch der höheren Töchterschule in Leipzig, volkswirtschaftlichen Studien widmet, beginnt die politische Karriere ihres Mannes, die ihn von der hessischen Ständekammer (1896 -1908) über den Reichstag (1903-30) bis zur ersten Präsidentschaft der verfassungsgebenden Nationalversammlung (1919) sowie verschiedenen Ministerämtern führt. Innerhalb der Partei wird er zu einem der führenden Verfechter des Revisionismus, deren Vertreter "sich gegen die Lehrmeinung von der Revolution zur Abschaffung des Privateigentums und der Etablierung eines sozialistischen Staates [wenden]. Statt dessen fordern sie die Beschränkung des privaten Verfügungsrechtes über die Produktionsmitel und die Partizipation der Arbeiterbewegung an der Gestaltung des Wirtschaftslebens durch die Mitarbeit an der parlamentarischen, genossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Arbeit." (Johanssen, 1954). Getreu dieser Überzeugung ist Gertrud David mit ihrem Mann 1899 maßgeblich an der Gründung der Mainzer Spar- Konsum- und Produktionsgenossenschaft beteiligt.

Bereits ab 1896 veröffentlicht sie ihre Ansichten zur Frauenfrage, ab 1899 auch zur Konsumgenossenschafts-Bewegung, die bis 1910 von offizieller Parteiseite nicht als Instrument des Klassenkampfes anerkannt- oder unterstützt wird. 1900-17 übernimmt sie die Redaktion der Rubrik "Genossenschaftswesen" in den Sozialistischen Monatsheften, dem "Organ des Revisionismus" (Lexikon sozialistischer Literatur, 1994). In den Jahren 1905, die Familie David ist gerade nach Berlin gezogen, und 1910 erscheinen zwei Publikationen zum Genossenschaftswesen, von denen sich die eine an die Arbeiterfrau wendet, die andere das sich wandelnde Verhältnis zwischen Genossenschaften und dem Sozialismus kritisch analysiert. Beide Bücher werden in mehrere Sprachen übersetzt und hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck.

Bei ihrer schriftstellerischen Arbeit entwickelt David ihren Stil, den sie später auf ihre filmische Arbeit überträgt und der von den Rezensenten folgendermaßen charkterisiert wird: "Sie arbeitet (...) offenbar von dem Gesichtspunkte aus, daß die größte Kürze, die sorgsamste Auswahl des leichtverständlichen Stoffes und Gedankenzusammenhanges und die einfachste Darstellungsart dem Zwecke zu dienen am geeignetsten sei." (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 1905).

1907-17 gibt sie außerdem eine sozialdemokratische Pressekorrespondenz heraus, deren Angebot die Grundlage der Artikel der sozialdemokratischen Blätter wird, die sich dieses publizistischen Rohmaterials bedienen. Sie bezweckt eine "populäre Verarbeitung des in den Veröffentlichungen der Statistischen Ämter und Behörden sowie der Arbeiterorganisationen gegebenen Materials" (Handbuch der Arbeiterpresse 1914), was sie zu einem geeigneten Mittel zur Verbreitung revisionistischer Anschauungen werden läßt. Ein ständiger Mitarbeiter ist ihr Mann, von dem sie seit 1908 getrennt lebt und von dem sie 1911 gütlich geschieden wird.

Auch nach ihrer Scheidung arbeiten die beiden auf verschiedenen Gebieten eng zusammen, so im Bund für Mutterschutz (BfM), der "aus dem linken Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung hervor [geht]. Er vereinigt hauptsächlich fortschrittliche bürgerliche Intellektuelle und Vertreter des Kleinbürgertums, die sich für Mutterschutz und Sexualreform einsetzten." (Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 2, 1984). Da sich die SPD als einzige in den Parlamenten vertretene Partei der Frauenfrage annimmt, verwundert es nicht, daß Helene Stöcker als maßgebliche Kraft und langjährige Vorsitzende des Bundes die Nähe des rechten Flügels der SPD sucht. So ist neben der Revisionistin Lily Braun, an deren Zeitschrift Die neue Gesellschaft auch die Davids mitarbeiten, auch die Sozialdemokratin Adele Schreiber in den ersten Jahren wie Eduard David in leitender Funktion im BfM tätig. Eduard David, der 1912 in den Fraktionsvorstand seiner Partei im Reichstag aufrückt, ist der geeignete Mann, die Petitionen des Bundes im Reichstag einzubringen und dort für sie zu werben. Auf diesem Wege werden die Ziele des BfM zum nationalen Anliegen.

Während des Krieges geht die Propagandaarbeit des BfM deutlich zurück; allerdings bekommt er von unerwarteter Seite Unterstützung: Die Filmproduktionsfirmen, immer auf der Suche nach neuen publikumswirksamen Themen, entdecken das uneheliche Kind als Filmstoff. Am 5.5.1917 meldet die Lichtbild-Bühne: "Die Deutsche Bioscop bereitet einen Film vor, der die Tragödie der unehelichen Mutter und ihres Kindes behandelt. Der Stoff für das großangelegte Drama ist den Papieren des ‚Bundes für Mutterschutz' entnommen und von Robert Reinert dramatisiert. Die Aufnahmen finden zum Teil in den Räumen des Bundes für Mutterschutz, dessen Ziel die Hebung der Lage unehelicher Mütter und Kinder ist, statt. Auch die Regie liegt in den bewährten Händen von Robert Reinert. Das Protektorat hat der ‚Bund für Mutterschutz' übernommen". Der Film soll unter dem Titel "Die Ausgestoßenen der Erde" erscheinen (Der Kinematograph, Nr. 541, 9.5.1917). Vier Tage später zieht die Eichberg-Film nach. Auch sie kündigt einen Film zum Thema an, den sie DIE IM SCHATTEN LEBEN nennt. Die Hauptrolle übernimmt Ellen Richter, das Drehbuch schreibt Adele Schreiber, die 1910 im Streit aus dem BfM ausgeschieden ist. Ein knappes Jahr später soll ein dritter Film, KINDER DER LIEBE, die Unehelichenproblematik thematisieren. Für alle drei Filme übernimmt der BfM das Protektorat.

Im September wird DIE GEÄCHTETEN fertiggestellt, am 15.9. der Zensur vorgelegt und für die Dauer des Krieges verboten. Am 28.11. wird das Verbot auf Grund einer überarbeiteten Fassung aufgehoben, der Film mit Jugendverbot freigegeben. Im Vergleich mit den anderen Bioscop-Filmen ungewöhnlich gering beworben, verkündet eine Anzeige: "Von der Zensur freigegen: Carola Toelle – Die Geächteten – Regie: Josef Stein – Die Geschichte eines unehelichen Kindes – Deutsche Bioscop Gesellschaft m.b.H". (Der Kinematograph, Nr. 571, 5.12.1917). Das Drehbuch hat Gertrud David verfaßt. (Warum Robert Reinert Regie und Drehbuch abgegeben hat, ist nicht zu ermitteln; es handelt sich aber zweifellos um den selben, am 5.5.1917 angekündigten Film unter neuem Titel.)

Zur Zeit der Dreharbeiten ist Gertrud David Leiterin der berliner Bundesauskunftsstelle und damit das Bindeglied zwischen dem Bund, hilfesuchenden Frauen und der interessierten Öffentlichkeit. Zum erstenmal kann sie nun ein neues Medium instrumentalisieren, um die Belange ihrer Organisation dem Publikum auf interessante Weise nahezubringen. Am 1.4.1918 wird der Film in den Kant-Lichtspielen in Berlin aufgeführt. Die Presse nimmt gebührende Notiz.

An Hand des Schicksals von drei unehelichen Frauen aus unterschiedlichem sozialen Milieu, von denen zwei Mutter und Tochter sind, zeigt DIE GEÄCHTETEN, wie trotz der unterschiedlichen individuellen und sozialen Umstände letztlich alle unehelichen Kinder "Opfer der Gesellschaft" sind, ausgedrückt durch ihre "schiefe Stellung zur unehelichen Mutterschaft, die sich gegenüber der Barbarei des Mittelalters wohl in den äußeren Formen, nicht aber in der rückständig gebliebenen, ja häufig rohen Gesinnung geändert hat". In einem versöhnlichen Ende findet ein Vater, der von der Existenz seiner Tochter nichts gewußt hatte, mit ihr zusammen, als er als Schöffe über sie wegen Diebstahls zu Gericht sitzen soll, und wegen ihrer Ähnlichkeit mit seiner damaligen Geliebten stutzig wird. Ein anderer Vater stirbt als Soldat im Krieg und hinterläßt Freundin und uneheliches Kind, die er beide "aufrichtig liebte". Mit dieser Wendung der Geschichte wird auf die Bedeutung einer Petition des BfM Bezug genommen, die die Hinterbliebenenrente auch für uneheliche Kinder forderte. Die Rezension spricht von einem "szenisch äußerst wirkungsvoll aufgebauten und auch schauspielerisch vortrefflich durchgeführten (...) Film." ( Alle Zitate aus: Die neue Gesellschaft, Mai 1918).

Knapp ein Jahr später schreibt Gertrud David ihr zweites Drehbuch – IRRWAHN – für die Deutsche Lichtbild-Gesellschaft e.V. (DLG). Hinter dem 1916 gegründeten Verein stehen die Interessen der deutschen Schwerindustrie – personifiziert durch Alfred Hugenberg und Ludwig Klitzsch – mit dem Ziel, über das Medium Film die "kulturellen und vaterländischen Interessen" zu propagieren. In ihrem "vaterländischen" Interesse liegt es nun, Anfang 1919, die bürgerkriegsähnlichen Zustände nicht in eine sozialistische Revolution münden zu lassen, die mit Sicherheit zu einer Sozialisierung der Produktionsmittel geführt hätte. Es gilt also, den Film in den Dienst zur Erhaltung des Status quo zu stellen. Schon im letzten Kriegsjahr ist von anderer Seite mit den Dreharbeiten zu einem LASSALLE-Film begonnen worden, der am 28.9.1918 freigegeben wird. Die Messter-Wochenschau, die ab Anfang 1920 zur DLG gehört, zeigt Bilder von den Kämpfen in Berlin. Es ist sogar geplant, die Memoiren der 1916 verstorbenen Lily Braun zu verfilmen.

In dieser Phase produziert die DLG eine Reihe thematisch passender Filme. Anfangs noch mit historischer Distanz, wie in DER FRIEDENSREITER, in dem noch einmal der Friedensschluß des 30jährigen Krieges auflebt, geht man wenig später das Problem des drohenden Klassenkampfes weniger unverblümt an: IRRWAHN (verfaßt von Gertrud David) "schildert an einer kühn aufgebauten und gut entwickelten Handlung, wohin der Weg führen würde, wenn anstatt naturnotwendigen Fortschrittes ungezügelte Umsturzideen die Herrschaft gewönnen" (DLG-Katalog, 2. Ausgabe, 1919). Im Film wird das wirtschaftliche Fiasko und das persönliche Drama geschildert, das die Übernahme der Betriebe durch die Arbeiter nach sich zieht. Am Ende ist alles nur ein Traum, der Zuschauer hat die Möglichkeit, es "besser" zu machen, indem er alles beim alten läßt. Die Namen der Charaktere – der gutmeinende, ideologisch verführte Fritz Heller contra den Revolutionär Trotzow – lassen erkennen, daß das Ziel hier eine schablonenhafte Typisierung der Charaktere und nicht ein psychologisch ausdifferenziertes Kammerspiel gewesen ist. Als einen "Insider-Gag" unter Revisionisten kann man den Namen einer auftretenden radikalen Agitatorin auffassen: Gertrud David gibt ihr den Namen Bernstein, den Namen des Begründers und theoretischen Vordenkers des Revisionismus, dessen Gedanken sich innerhalb der Sozialdemokratie gegen die radikalen Bestrebungen seiner Parteigenossen wendet. Als Schauspieler sieht man u.a. routinierte Kräfte wie Hugo Flink und Käte Haack.

Alle diese Filme der DLG entstehen unter der Regie von Hans Werckmeister. Während DER FRIEDENSREITER bei der Kritik auf wenig Wohlwollen stößt, findet man IRRWAHN "ein wenig besser – und vor allem fesselnder. (...) Die Arbeit macht den Eindruck eines "Schlüsselfilms". Die Typen, die da herumeilen, sprechen und handeln, ähneln gewissen Politikern unserer Tage ungemein." (Der Kinematograph, Nr. 635, 5.3.1919).

Auch in den folgenden Filmen, zu denen Gertrud David die Manuskripte schreibt, spielen Klassengegensätze eine Rolle. Sei es in einem Lustspiel um eine reiche Erbin, die inkognito arbeitet, um um ihrer selbst Willen geliebt zu werden (MARGOTS FREIER), sei es in dem Propaganda-Film ZWISCHEN ZWEI FEUERN, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Abtretung Westpreußens und Oberschlesiens gedreht wird, oder auch in einem sogenannten Kultur-Werbefilm, einem Film zur Öffentlichkeitsarbeit der Leipziger Messe. Hier schafft der clevere Handlungsgehilfe Hellkopf (sic!) den sozialen Aufstieg durch Geschäftssinn und der erwiderten Liebe zu der Tochter eines Kaufmannes (DIE LACHENDE KONKURRENZ).

Neben diesen etwa 30-60 minütigen Spielfilmen wird David zunehmend als Autorin für Kultur-Werbefilme beschäftigt. Sie verfaßt das Manuskript zu Filmen über das Problem der Säuglingssterblichkeit und der Bekämpfung der Kindertuberkulose, bei dem sie erstmals auch Regie führt. Neben ihrer filmischen Tätigkeit fungiert sie 1920-23 auch als Beisitzerin der Film-Prüfstelle Berlin.

1922 wird Gertrud David mit der Herstellung einer Serie von Kultur-Werbefilmen beauftragt, die die Arbeit der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld veranschaulichen sollen. Während die katholische Kirche bereits 1917 den Film als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit nutzt und sogar über eine eigene Filmproduktionsfirma verfügt, beweist Bethel hier von evangelischer Seite Pioniergeist.

Der Erfolg ist so überzeugend, daß die Filmstelle in Bethel 1924 eine weitere Staffel in Auftrag gibt, die ebenfalls von Gertrud David realisiert wird. Sie ist mittlerweile zur Dramaturgin und Aufnahmeleiterin der jetzt Deulig AG genannten Firma avanciert, deren Film-Verleih weiter über die DLG läuft. Auch diese Staffel wird erfolgreich in Kirchen und Anstalten der Inneren Mission vorgeführt.

Gertrud David, inzwischen 52 Jahre alt, hat sich einen guten Namen in der Branche erworben. Mit der Einführung einer stabilen Währung sieht man in Deutschland wirtschaftlich kalkulierbareren Zeiten entgegen. Trotzdem ist es ein beachtlicher Entschluß Gertrud Davids, sich Ende 1924 mit der Gründung der Firma Gervid-Film selbständig zu machen.

Für die Innere Mission entsteht ein Film über STÄTTEN UND WERKE DER LIEBE IM SCHÖNEN LIPPERLAND, es folgt ein Privatfilm für den sozialdemokratischen Bankier Hugo Simon und der erste von drei Filmen für das Deutsche Rote Kreuz und seine Mitgliedsorganisationen.

Im Herbst 1924 hat sich die Deulig AG, in deren Verwaltungsrat seit 1925 mit dem General-Superintendenten Otto Dibelius auch ein hoher evangelischer Würdenträger sitzt, an den Evangelischen Preßverband für Deutschland gewandt, dessen Vorstandsmitglied wiederum Dibelius ist, mit dem Angebot, einen Film über das Wirken der Inneren Mission zu drehen. Dabei sollen verschiedene Facetten von der Gemeindearbeit über die Kinderhorte und die Behindertenarbeit dargestellt werden. Die Verhandlungen ziehen sich lange hin und werden ergebnislos abgebrochen. Schließlich bekommt die Gervid-Film den Auftrag, der sich mit der Deulig AG nicht realisieren ließ.

Mitte März 1925 legt Gertrud David einen Drehbuchentwurf vor, der auch Aufnahmen aus der Taubblinden-Anstalt des Oberlinvereins in Nowawes (heute Potsdam-Babelsberg) vorsieht. Bei einer Ortsbesichtigung dieser in Deutschland einzigartigen Institution ist man von dem Erlebten so angetan, daß man sich gemeinsam entschließt, einen eigenen Film nur über die Taubblindenarbeit des Oberlinvereins zu produzieren. Auf einem Manuskript der Pastoren Tombers und Balk basierend, wird die schulische, medizinische, berufliche und seelsorgerische Betreuung der Taubblinden dort im Rahmen eines Tagesablaufes gefilmt. Die Dreharbeiten zu SPRECHENDE HÄNDE, schreibt Gertrud David später, sind für alle Beteiligten ein besonderes Erlebnis, zumal die taubblinden "Darsteller" nach erstem Zögern sogar eigene Ideen einbringen, die Gertrud David in den Film integriert (Der Bildwart 1926).

SPRECHENDE HÄNDE, der von 1925-55 (mit Ausnahme der Kriegsjahre 1940-45) fast jährlich mit bis zu 15 Kopien gleichzeitig im In- und Ausland läuft, öffnet der evangelischen Filmarbeit neue Horizonte. Das Echo auf einen solchen "kleinen" Film ist überwältigend. Der Direktor des Bilderbundes deutscher Städte, vormals Direktor der Deulig-Kulturfilmabteilung, kührt den Film in einer reichsweiten Umfrage zum besten Kulturfilm 1925, das Presse-Echo aus allen politischen Lagern ist durchweg positiv. Das sozialdemokratische Hamburger Echo schreibt: "Das Leben griff aus der weißen Fläche heraus und packte ans Herz." (Hamburger Echo, 10.6.1927). Der Film wirkt außer durch häufig noch nie Gesehenes vor allem durch den Verzicht auf Mitleidsheischerei. Die Behinderten werden in ihrem So-sein akzeptiert und in für damalige Verhältnisse sachlicher Form präsentiert. Natürlich wird nicht vergessen, die Verdienste der Inneren Mission bei der Betreuung dieser Menschen getreu der Bibel ins rechte Licht zu rücken. Alles in allem wirkt der Film, den etwa eine Million Zuschauer sehen, weil er "menschlich ist, nicht konfessionell", wie der Rezensent des Bildwart anführt. 1929 erhält der Film auf dem Weltreklame-Kongreß in Berlin als einziger der am Wettbewerb teilnehmenden Filme eine Urkunde mit besonderer Auszeichnung.

Für Gertrud David bedeutet der Erfolg von SPRECHENDE HÄNDE den Durchbruch im Filmproduktionsgeschäft. Neben Filmen für die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, dem Deutschen Roten Kreuz, der SPD, der Baugewerkschaft und der Großeinkaufsgemeinschaft deutscher Konsumgenossenschaften, wird die Gervid-Film zum größten kommerziellen Auftragnehmer evangelischer Filmstellen. Über 35% aller kommerziell vergebenen Aufträge gehen an die Gervid, insgesamt hält die Firma einen Anteil von gut 15% an der evangelischen Filmproduktion.

Ein weiterer Hinweis auf ihre Bedeutung als Kultur-Werbefilmproduzentin ist das Filmprogramm der GESOLEI, der Messe für Gesundheit, Sozialfürsorge und Leibesübungen, die 1926 in Düsseldorf über sechs Monate täglich zwischen 25000 – 75000 Gäste anzieht. Hier stellen sich auch die fünf großen Wohlfahrtsverbände vor. In einem extra eingerichteten Kino mit mehreren hundert Sitzplätzen laufen 20 Filme, die für die Wohlfahrtspflege und ihre Vertreter werben. Knapp die Hälfte der Filme stammt von Gertrud David.

Die Gervid-Film ist bis 1935 an der Produktion von 41 Filmen beteiligt, von denen gut ein Drittel eine Spielhandlung enthalten. Diese führt in die Kernaussage des Films ein, umrahmt sie, oder ist mit ihr durchgängig verwoben. Teilweise werden professionelle Schauspieler beschäftigt, wie Fritz Alberti in DIE SCHWESTER VOM ROTEN KREUZ, häufiger agieren jedoch weniger bekannte Schauspieler oder Laiendarsteller.

An der Kamera beschäftigt Gertrud David von Anfang an spielfilmerfahrene Kräfte wie Friedrich Paulmann, der u.a. als Kameramann einen Teil der FRIDERICUS REX-Filme fotografiert hat. Er macht sich Anfang der 30er Jahre mit einer eigenen Produktionsgesellschaft selbstständig und wird so zum Konkurrenten Gertrud Davids, da auch er von evangelischen Filmstellen Aufträge erhält. Weitere Kameraleute, die für die Gervid-Film arbeiten, sind Ewald Daub, der viel mit Harry Piel gedreht hat, Alfred Hansen, der für Lubitsch, Carl Boese, Max Mack und andere tätig gewesen ist, und Walter Robert Lach (DIE FREUDLOSE GASSE) sowie der Däne Sophus Wangöe, der für Robert Dinesen und Joe May die Kamera bedient hat.

Die größte Aktivität entfaltet die Gervid-Film in den ersten fünfeinhalb Jahren ihres Bestehens, zwischen 1924-30. In dieser Zeit ist Gertrud David an der Produktion von 33 Filmen beteiligt, 29 davon sind Filme in eigener Regie, bei 4 Filmen bearbeitet sie bereits vorliegendes Filmmaterial der Filmstelle Bethel. Zwischen 1931 und 1935 entstehen weitere 8 Filme. Das abnehmende Produktionsvolumen der letzten Jahre mag mit einem gewissen Sättigungsgrad ihrer Auftraggeber zu tun haben, aber auch mit den veränderten politschen Bedingungen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.

Die Filmarbeit der Kunden Gertrud Davids, soweit sie überhaupt als Organisationen weiter zugelassen sind, leidet u.a. durch den Zwang zur Wiedervorlage der vor 1933 zensierten Filme und andere einschneidende Kontroll-Maßnahmen. Ein Beispiel dafür ist RINGENDE MENSCHEN – DIE TRAGÖDIE EINER FAMILIE, der 1933 im Auftrag der Filmstelle Bethel entsteht und das heikle Thema der Erbkrankheit mit Hilfe einer Spielhandlung am Schicksal einer Epileptiker-Familie illustriert. Trotz positiver Gutachten wird dem Film das Prädikat "volksbildend" oder "Lehrfilm", das zuvor fast alle Produktionen der Gervid-Film erhalten haben, von der Prüfstelle verweigert. Zwar kann der Film bis 1937 gezeigt werden, er wird dann jedoch zur Nachzensur angefordert und verboten.

Für Getrud David ist die Arbeit im Film oft genug eine Arbeit mit dem Film als Kommunikator ihrer politischen Überzeugungen. Sie setzt sich aber auch theoretisch mit ihm als Kunstform auseinander, wie im Jahr 1919 ein Artikel über den Expressionismus im Film beweist. Sie versteht es durch ihre Arbeit, auf den ersten Blick wenig mitreißende Themen mit filmischen Mitteln so aufzubereiten, daß ihre Auftraggeber eine den Zielen der jeweiligen Organisation sympathisch zugewandte Öffentlichkeit erreichen.

Gertrud David stirbt am 21. Juni 1936 in Berlin.

Ihre Firma wird noch etwa ein Jahr von ihrer Tochter Sonja weitergeführt, die vermutlich nur als Strohmann für ihren Ehemann Friedrich Hertneck dient, einem promovierten Volkswirtschaftler, der wegen seiner publizistischen Tätigkeit für die SPD mit einem Berufsverbot belegt worden ist und seitdem vom Verfassen von Cowboy-Romanen lebt.

Klaas Dirk Dierks

Auszeichnung

  • Weltreklame Kongreß Berlin 1929: Urkunde "mit besonderer Anerkennung" für SPRECHENDE HÄNDE.

Literatur

Von Gertrud David

  • Was bietet der Konsumverein der Arbeiterfrau? Hamburg 1905. (Broschüre).
  • Sozialismus und Genossenschaftswesen. o.O. 1910. (Broschüre).
  • Der expressionistische Film. In: Der Kinematograph, Nr. 658, 13.8.1919.
  • Wie der Film "Sprechende Hände" entstand. In: Der Bildwart, 1926, Bd. 2, S. 432-440.

Über Gertrud David

  • Klaas Dierks: "Sprechende Hände". Ein Film und seine Geschichte. Stuttgart, Potsdam: Verband Evangelischer Einrichtungen für die Rehabilitation Behinderter e.V. 1995, 60 S.
  • Harro Johanssen: Der Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1914. Diss. phil. Universität Hamburg 1954 (unveröffentlicht).
  • Heiner Schmitt: Kirche und Film. Kirchliche Filmarbeit in Deutschland von ihren Anfängen bis 1945. Boppard: Boldt 1979, (Schriften des Bundesarchivs 26), 382 S.
  • Christl Wickert: Helene Stöcker 1869-1943. Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin. Eine Biographie. Bonn: Dietz 1991, 197 S.

Filmografie