CineGraph - Lexikon zum deutschsprachigen Film.
Paul Dessau - KomponistBiografie
siehe auch FilmMaterialien 6
Paul Dessau wird am 19. Dezember 1894 in Hamburg, Hohler Weg 21, am Fuße des Michel, geboren. Seine Eltern sind der Zigarrenarbeiter Sally Dessau (1849-1923) und seine Frau Louise, geb. Burchard (1863-1942). Der Vater - »Besitzer eines kleinen Tabakladens in der Nähe des Hafens« (Dessau, Biographische Skizze, 1953) - sollte ursprünglich wie der Großvater Moses Berend Dessau Kantor werden. Ein Onkel, Bernhard Dessau, ist Geiger an der Königlichen Oper Unter den Linden, ein Cousin ist Max Winterfeld, der als Jean Gilbert erfolgreicher Operetten-Komponist wird. Paul wächst in einer musikalischen Atmosphäre auf. »Man rühmte mir nach, im Alter von drei Jahren den Prolog aus der Oper "Bajazzo" gesungen zu haben. Früh prägte sich das absolute Tonbewußtsein aus. Ich wurde mit Schuberts Liedern und Wagners Arien groß und wollte auch Sänger werden.« (Dessau, 1953). Mit sechs Jahren erhält er Geigen-Unterricht, mit elf tritt er in Altona erstmals öffentlich auf.
Nach ersten Kompositionsversuchen beginnt er 1909 am Klindworth-Scharwenka- Konservatorium in Berlin ein Studium mit dem Hauptfach Violine. 1913 erhält er eine Anstellung als Korrepetitor am Hamburger Stadttheater: »Die Hamburger Zeit wurde für meine künstlerische Entwicklung von höchster Bedeutung. Chefkapellmeister wurde der berühmte Felix von Weingartner. Der unvergeßliche Arthur Nikisch kam alljährlich, und ich durfte während der Proben hinter ihm sitzen und lernte dabei mehr als in allen Konservatorien zusammen.« (Dessau, 1953). Den Sommer 1914 verbringt er als Zweiter Kapellmeister am Tivoli-Theater in Bremen (Direktor: Jean Gilbert), dirigiert dort erstmals eine Operette. 1915 wird er zum Kriegsdienst eingezogen, den er zunächst an der Westfront in Frankreich, dann in der Militärkapelle des Infanterieregiments Nr. 84 (Schleswig-Holstein) in Schleswig ableistet.
1918 kehrt er nach Hamburg zurück, diesmal als Kapellmeister und Komponist an Erich Ziegels Kammerspielen. Es folgen verschiedene Engagements als Korrepetitor und Kapellmeister: 1919-23 in Köln bei Otto Klemperer, 1923 in Mainz, 1925 als Erster Kapellmeister unter Bruno Walter an der Städtischen Oper Berlin. Für sein »Concertino« für Violine erhält er 1925 den Preis des Musikverlags Schott. Am 21.6.1924 heiratet er die Schauspielerin Gudrun Kabisch, der Ehe (1936 geschieden) entstammen die Kinder Eva (geb. 1926) und Peter (geb. 1929). In Prag wird 1927 Dessaus »Erste Sinfonie (in C)« uraufgeführt.
»Der aufstrebende Musiker interessierte sich rasch für den Film, wurde von der Ufa [1926] mit der Leitung ihres Orchesters in Wiesbaden betraut, das er, wie man hört, auf ansehnliche Höhe brachte.« (Das Kino-Orchester, 14.7. 1928). Aus Wiesbaden, wo der Geiger (Jean) Kurt Forest sein Konzertmeister und Stellvertreter ist, kehrt er nach Berlin zurück und leitet kurze Zeit das Orchester des Phoebus-Palasts im Europa-Haus. Als die Südfilm am 20.8.1928 das Alhambra (zuvor Emelka-Palast) am Kurfürstendamm als Erstaufführungskino wiedereröffnet, wird Dessau als Orchesterleiter engagiert.
Aus diesem Anlaß veröffentlicht die Fachpresse seine Absichten: »Kapellmeister Dessau, Dirigent eines fünfzehn Mann starken Orchesters, beabsichtigt, eine Reihe musikalischer Neuerungen einzuführen. So wird er zum Film SONG eine kurze Ouvertüre spielen lassen, die er selbst komponiert hat. Außerdem wird er einen Zeichentrickfilm mit durchkomponierter, moderner Originalmusik begleiten. Weitere Experimente, unter anderem engere Zusammenarbeit mit einem der bekanntesten modernen deutschen Komponisten sind vorgesehen.« (Film-Kurier, 16.8.1928). Alle hier genannten Pläne realisiert er erfolgreich in den etwa zwei Jahren seiner Tätigkeit mit dem Alhambra-Kammerorchester.
Neben der traditionellen Illustration der eher mittelmäßigen Unterhaltungsfilme, die im Alhambra Premiere haben, schreibt er zu einer Reihe kurzer Trickfilme Original-Kompositionen, die er nicht nur im Vorprogramm, sondern auch in Sonderveranstaltungen präsentiert, die er gemeinsam mit anderen Komponisten veranstaltet.
Sein Impetus bei der Arbeit geht über die routinemäßige Illustration nach Kinotheken hinaus: »Das Lichtspieltheater, die Unterhaltungsstätte der breiten Masse, ist in viel höherem Maße verpflichtet, an der Weiterentwicklung der musikalischen Bildung des Volkes zu arbeiten, als beispielsweise die Oper, die noch immer nur einer verhältnismäßig geringen Anzahl von Menschen und nur in wenigen großen Städten zugänglich ist. Und die modernste, aktuellste und lebendigste Kunstgattung, »Das lebende Bild«, sollte auch durch die modernste, lebendigste Musiksprache begleitet werden.« (Dessau, Reichsfilmblatt, 27.10.1928).
Seine Tätigkeit findet sofort Anklang bei Publikum und Presse, selbst wenn er - vor allem bei seinen Kurzfilm-Musiken - modernste Kompositionsmittel einsetzt: »Dort verzichtet Paul Dessau auf jeden billigen Effekt. Er untermalt einen Schwank ebenso liebevoll wie ein Spitzenprodukt und bei beiden verzichtet er darauf, ausgetretene Wege zu gehen. Der Beiprogrammfilm ist zweimal von ihm komponiert worden. Beide Male ging das Publikum mit. Es nahm die "moderne Musik", die ihm da geboten wurde, nicht nur auf, sondern es bejubelte den Dirigenten. Und das nicht nur in der Premierenstimmung, sondern an fast jedem der folgenden Tage. Vom Beiprogramm aus zeigt Dessau, wie eng atonale Musik und Film zusammengehören können. Seine Musik bedeutet einen Vorstoß in Neuland, eine Avantgarde-Tat, die neben dem künstlerischem Wert den doppelten Vorzug hat, auch dem musikalisch nicht vorgebildeten Publikum zu gefallen.« (Film-Kurier, 13.9.1928).
Die Kurzfilme, zu denen er Original-Kompositionen verfaßt, sind Frühwerke von Walt Disney von 1926: ALICE UND IHRE FEUERWEHR (21.8.1928), ALICE UND DIE FLÖHE (25.9. 1928), ALICE UND DIE WILDWEST-BANDITEN (18.10.1928) und ALICE UND DER SELBSTMÖRDER (31.1.1929). Es sind Kombinationen aus Zeichentrick und Realfilm ebenso wie die Puppentrick-Filme von Ladislas Starewitch DER VERZAUBERTE WALD (7.9.1928) und DIE WUNDERUHR (12.11.1928), der sogar in den Uraufführungs-Anzeigen des Hauptfilms annonciert wird. Musik- und Film-Fachpresse widmen Dessaus Musik ausführliche Rezensionen. »Ein Musiker, der seine Aufgabe ernst nimmt, der zurzeit allerdings die Gefahren der Schnellarbeit zu spüren bekommt, ist Paul Dessau. Nach überraschend schnellem Anfangssieg ist er in die Notwendigkeit versetzt worden, jede Woche einen Film zu illustrieren. Dabei ist die pädagogische Aufgabe, das Orchester zu Leichtigkeit und gedämpfter Wiedergabe zu erziehen, ins Hintertreffen gekommen. Es steht zu hoffen, daß er bald wieder Gelegenheit hat, sich an größere Aufgaben zu wagen. Dann wird es ihm auch leichter fallen, die Mittelklasse zu untermalen.« (Film-Kurier, 8.11.1928).
Neben der regelmäßigen Filmbegleitung organisiert Dessau zwei Sonderveranstaltungen (21.10.1928, 5.5.1929), in denen er unter dem Titel »Kammermusik und Filmmusik« eigene und fremde Originalkompositionen zu Kurzfilmen mit aktueller und klassischer Kammermusik kombiniert. Im Mai 1929 wird beispielsweise unter anderem Dessaus »Sonatine für Bratsche und Cembalo« uraufgeführt, die Solo-Bratsche gespielt von Paul Hindemith. Für die Mitglieder der Volksbühne gibt er am 27.10. 1929 eine Filmmusik-Matinee im Theater am Bülowplatz. Ein weiteres Ereignis ist am 15.12.1928 die Dolittle-Benefiz: Den dreiteiligen Scherenschnittfilm DOKTOR DOLITTLE UND SEINE TIERE von Lotte Reiniger präsentiert Dessau mit seinen Arrangements von Musiken, die Kurt Weill und Paul Hindemith zur Verfügung gestellt haben, sowie mit einer eigenen Original-Komposition.
Für die Tobis-Film entsteht im Frühjahr 1929 nach dem Musikstück »Der Nebbich« in Zusammenarbeit mit Hans Conradi das kurze Tonfilm-Experiment PAUL DESSAU (Zensurtitel). Die Uraufführung findet am 25.7.1929 unter dem Titel EPISODE während der Kammermusikwoche Baden-Baden 1929 im Rahmen einer Reihe von Experimenten mit der Tonfilm-Technik statt, die von dem Komponisten und Tontechniker Dr. Guido Bagier für die Tobis hergestellt werden. Der Film läuft mit anderen des Baden-Badener Programms auch am 6.10.1929 in der Neue-Musik-Woche in München.
Während Dessau sich so bereits intensiv mit dem Tonfilm beschäftigt, begleitet er weiterhin Stummfilme im Alhambra, darunter auch Wiederaufführungen älterer Filme wie Joe Mays Abenteuerfilm DAS INDISCHE GRABMAL (1921) und ein Programm mit Chaplin-Zweiaktern von 1923. Außerdem dirigiert er am 30.12.1929 seine Illustration zur Uraufführung von Jutzis MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK. »Dieser Zille-Film war aber nicht nur an sich schwer zu illustrieren - stellenweise geradezu unmöglich -, sein Schnitt verursachte vielfach, in Anlehnung an russische Vorbilder, so starke Unruhe im Bild, daß die Einhaltung der musikalischen Linie schier undurchführbar wurde, ohne der musikalischen Anpassung Opfer zu bringen. Dessau brachte diese Opfer nicht, und so unterbrach er die Linie des öfteren mit liebevoll gezeichneten Einzelheiten, die den jeweiligen Stimmungsgehalt bis zum letzten ausschöpften, aber nach meinem Dafürhalten nicht immer im Zusammenhang miteinander blieben. Dennoch: ein echter Dessau, die Musik. Keine eingängige Kost.« (K. London, Der Film, 4.1.1930). Die Verbindung zum Alhambra endet im Mai 1930 mit einem Prozeß vor dem Arbeitsgericht, weil Dessau sich zu intensiv mit der neuen Tonfilm-Technik beschäftigt und seinen - schon reduzierten - Verpflichtungen als Orchesterleiter nicht genügend nachgekommen sei.
Seine Tonfilm-Arbeit umfaßt zunächst Filmoperetten und Sängerfilme mit dem Kapellmeister und Tenor Richard Tauber: ICH GLAUB' NIE MEHR AN EINE FRAU, DAS LOCKENDE ZIEL, DAS LAND DES LÄCHELNS, DIE GROSSE ATTRAKTION und MELODIE DER LIEBE. Dessau obliegt die musikalische Leitung der Melodien von Franz Lehár und Bronislaw Kaper und er komponiert zusätzliche Passagen. Der zweite Schwerpunkt sind - meist assistiert von Fritz Goldschmidt - die Musiken für Arnold Fancks Bergfilme STÜRME ÜBER DEM MONTBLANC, DER WEISSE RAUSCH und S.O.S. EISBERG, ebenso die zum gleichen Genre und zum Teil von Fancks Mitarbeitern hergestellten NORDPOL - AHOI! und ABENTEUER IM ENGADIN. In STÜRME ÜBER DEM MONTBLANC setzt er u.a. auch die Welte-Orgel und das Trautonium für elektronische Effekte ein. »Wie er eine Lawine akustisch nachdichtet, ihrem Stürzen und Poltern die musikalische Substanz abhört, einen Orgelpunkt als Pfeiler hinstellt und darüber mit wenigen harmonischen Strichen das Dumpfe des Falls herausarbeitet, ist mehr als bloße Stilisierung von Geräuschen.« (Lichtbild-Bühne, 6.2. 1931).
Aus diesen Genre-Reihen fallen unter anderem E. A. Duponts Artistenfilm SALTO MORTALE heraus, der 1931 zugleich in deutscher und französicher Version entsteht, und Frank Wysbars mystizistischer ANNA UND ELISABETH, beim dem Dessaus Name nicht genannt wird und der 1933 sein letzter deutscher Film ist (die zwei Grönland-Filme sind vorher fertig, kommen aber erst 1933 bzw. 1934 heraus).
Mitte 1933 emigriert Dessau nach Paris, wohnt 1935 in Herblay, zieht Ende des Jahres nach Boulogne-sur-Seine. Er komponiert für einige französische Spielfilme, die - überwiegend - unter der Regie oder der Produktion von Emigranten aus der deutschen Filmindustrie entstehen: Kurt Bernhardts L'OR DANS LA RUE, Robert Siodmaks CARGAISON BLANCHE, Max Ophüls' YOSHIWARA, Fedor Ozeps GIBRALTAR. Bei ACCORD FINAL (I. R. Bay unter der Oberleitung von Detlef Sierck), CARREFOUR (Bernhardt) und WERTHER (Ophüls) verwendet er das Pseudonym Henri Herblay. Helmar Lerskis AWODAH, ein in Palästina gedrehter und in Budapest bearbeiteter Dokumentarfilm läuft beim Filmfestival in Venedig.
Daneben tauchen in Dessaus Aufzeichnungen einige Titel auf, die nur teilweise nachweisbar sind, z.B.: »Ich lernte noch in Berlin einen Russen kennen, der einen kleinen Film gemacht hatte, und den komponierte ich in Paris - es war ein Kulturfilm über Ägypten« (Dessau, 1974); dabei handelt es sich vermutlich um Viktor Stoloffs SIWA - ESCALE DU DESERT.
1936 beginnt er gemeinsam mit René Leibowitz Studien der Zwölfton-Technik, gleichzeitig, ausgelöst durch den spanischen Bürgerkrieg, engagiert er sich politisch und komponiert unter dem Pseudonym »Peter Daniel« u.a. die Lieder »No pasaran« und »Thälmannkolonne«, zu denen seine Frau Gudrun Kabisch unter dem Pseudonym »Karl Ernst« die Texte verfaßt. Daneben entsteht auch eine Reihe von Kompositionen zu jüdischen Themen, u.a. das Oratorium »Haggadah« (1936) nach einem Text von Max Brod sowie Lieder mit jiddischen und hebräischen Texten.
Im Juli 1939 emigriert er weiter nach New York, wo er zunächst seinen Lebensunterhalt mit Kopieren von Noten und Texten anderer Kollegen verdient sowie als Musiklehrer in einem Kinderheim und bei der Musikschule des Y.M.H.A. Er führt Kompositionsaufträge aus, tritt mit eigenen Liedern auf. »Er lebte in einem winzigen Souterrainzimmer, in dem das Wasser die Wände herunterlief, so daß sein einziges Wertstück, ein Klavier, bald unbrauchbar war. Um zu leben arbeitete er auf einer Hühnerfarm [in New Brunswick], die jedoch so weit außerhalb lag, daß er früh um vier Uhr mit dem Vorortzug schon unterwegs sein mußte. Dieses Leben machte ihn fix und fertig. Alle Kraft brauchte er für den nackten Lebensunterhalt. An künstlerische Arbeit war nicht zu denken.« (Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, 1986). In dieser Situation lernt er 1942 bei der Vorbereitung zu einer Veranstaltung Bertolt Brecht kennen, auf dessen Anregung er nach Hollywood übersiedelt, wo er zunächst im Haus von Andrew Marton wohnt. Es folgt eine Reihe von gemeinsamen Arbeiten mit Brecht, u.a. das Oratorium »Deutsches Miserere« und die nicht fertiggestellte Oper »Die Reisen des Glücksgotts«. In Hollywood pflegt er auch engen Kontakt mit Arnold Schönberg.
Dessau erhält bei verschiedenen Filmproduzenten Aufträge als Instrumentator und Orchestrator und führt daneben »Negerarbeit« aus: »Ein Komponist wurde nicht fertig und sagte mir: "Mach mir einmal zwei bis drei Sequenzen von den fünfundzwanzig, die ich abliefern muß." Da machte ich eben zwei bis drei Sequenzen und bekam pro Sequenz vielleicht fünfzig Dollar.« (Dessau, 1974). Brecht notiert am 20.7. 1945 im Arbeitsjournal: »jetzt beschwert sich dessau, daß e[isler], zurück in hollywood, ihn anrief und bat, da seine nerven herunter seien, ihm etwa 12 minuten filmmusik für das studio zu schreiben. sie machten aus, e würde seinen scheck dafür mit d teilen (1000 $). d schrieb 4 minuten, e hatte sich erholt und fand d musik nicht verwertbar. d verlangte natürlich dennoch sein geld (zu e erstaunen). zu bekommen hatte er 200 $ (üblicher preis), er begnügte sich damit, 100 zu verlangen. 4 wochen vergingen, d war in miserablen umständen, brauchte das geld, e wußte das. in meinem arbeitszimmer sitzend, mit d in der küche, beschwerte sich e, daß die hollywoodmusik seine ohren ruiniere.«
Diese »Negerarbeit« erledigt Dessau hauptsächlich für die Komponisten Karl Hajos, Hans J. Salter (1929 in Berlin Kapellmeister in Ufa-Kinos), Edgar Fairchild und Hugo W. Friedhofer. Einige von ihnen sind auch Co-Autoren bei Filmen, für die Dessau ab 1945 auch selbst Credits als Komponist oder Musikalischer Leiter erhält: u. a. THE WIFE OF MONTE CRISTO (Edgar G. Ulmer), WINTER WONDERLAND (Bernard Vorhaus), THE PRETENDER und THE VICIOUS CIRCLE (W. Lee Wilder). Nicht allen in überlieferten Gehaltsabrechnungen auftauchenden Honorarzahlungen lassen sich bestimmten Filmen zuordnen. Seine letzte - ungenannte - Arbeit in Hollywood ist 1948 Komposition (»Joan«), Orchestration und Arrangement für Hugo W. Friedhofer in Victor Flemings Film JOAN OF ARC.
1947 arbeitet er noch einmal mit Helmar Lerski zusammen und schreibt für den in Palästina vor allem für Amerika produzierten Dokumentarfilm über Kinder in einem Kibbuz ADAMAH / TOMORROW'S A WONDERFUL DAY eine Musik, die er auch zu einer Kammermusik-Suite umarbeitet. Letztes wichtiges Ergebnis der Zusammenarbeit mit Brecht in den USA ist die Aufführung von »Der gute Mensch von Sezuan« mit Dessaus Bühnenmusik.
1948 kehrt Dessau mit seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Elisabeth Hauptmann, nach Europa zurück und läßt sich in Ost-Berlin nieder, wo am 11.1.1949 »Mutter Courage und ihre Kinder« mit seiner Musik im Deutschen Theater Premiere hat. Er arbeitet in den nächsten Jahren wieder intensiv mit Brecht zusammen; sie verfassen für die Freie Deutsche Jugend das »Aufbau-Lied«. Für das Berliner Ensemble entstehen mehrere Bühnenmusiken: »Herr Puntila und sein Knecht Matti«, »Mann ist Mann«, »Urfaust«, »Don Juan«, »Der kaukasische Kreidekreis«.
Ihre Oper »Das Verhör des Lukullus« darf nach einer Probeaufführung am 17.3.1951 nicht aufgeführt werden - die Musik wird als »volksfremd und formalistisch« angegriffen -, und löst (unter Beteiligung der Staatsführung) eine der ersten großen kunstpolitischen Debatten aus. Umgearbeitet hat sie unter dem Titel »Die Verurteilung des Lukullus« erst am 12.10.1951 öffentlich Premiere.
Zu den III. Weltfestspielen der Jugend im Sommer 1951 verfassen Brecht und Dessau die der FDJ gewidmete Kantate »Herrnburger Bericht«, eine von zahlreichen Arbeiten, mit denen Dessau (häufig nach Texten von Brecht) direkt zu politischen Ereignissen Stellung nimmt, so 1963 ein »Requiem für Lumumba« mit einem Text von Karl Mickel.
In den nächsten Jahren entstehen zahlreiche Kompositionen, darunter Lieder (nach Texten von Brecht, Friedrich Wolf, Johannes R. Becher, Walter Ulbricht und Volker Braun, Karl Mickel, Georg Maurer, Erich Fried, Erich Honecker und Heiner Müller, Pablo Neruda und anderen), Tanzszenen (meist nach Szenarien von Ruth Berghaus), Orchesterstücke (»In memoriam Bertolt Brecht«, 1957; »Orchestermusiken 1-4«, 1964-75; »Quattrodramma«, 1965). Er schreibt Schauspielmusiken - 1963 »Coriolan« (Brecht/Shakespeare), 1968 »Vietnam-Diskurs« (Peter Weiss), 1973 »Zement« (Heiner Müller) - und Opern: »Puntila« (1957-59, UA: 15.11.1966), »Lanzelot« (1969, Text: Heiner Müller nach Jewgenij Schwarz, UA: 19.12.1969), »Einstein« (1971-73, Text: Karl Mickel, UA: 16.2.1974), »Leonce und Lena« (1978/79, Text: Thomas Körner nach Büchner, UA: 24.11.1979).
Dessau pflegt Freundschaft und Kooperation mit seinen jungen Kollegen Luigi Nono und Hans Werner Henze, der z.B. Dessaus Hörspiel »Orpheus« (1930/31) zur Oper »Orpheus und der Bürgermeister« umarbeitet und am 5.8.1977 in Montepulciano uraufführt. Gemeinsam mit Boris Blacher, Karl Amadeus Hartmann, Henze und Rudolf Wagner-Régeny komponiert Dessau 1960/61 das Chorwerk »Jüdische Chronik«.
Mitte der 50er Jahre beginnt er wieder für den Film zu komponieren, vor allem für eine Reihe von propagandistischen Dokumentarfilmen von Andrew und Annelie Thorndike. »Allein der Senior der DDR-Komponisten Paul Dessau schrieb in den fünfziger und sechziger Jahren für die Thorndikeschen Dokumentationen DU UND MANCHER KAMERAD (1956), UNTERNEHMEN TEUTONENSCHWERT (1958) und DAS RUSSISCHE WUNDER (1962) Partituren, die in ihrem künstlerischen Anspruch aus den Niederungen konfektionell gefertigter Kapellmeistermusik herausragen. Dessau nutzt einen großen Intonationsvorrat, um seine stets spürbare parteiliche Haltung zum visuellen Geschehen zu artikulieren. Charakteristisch ist eine dualistische Materialkonzeption im Sinne von gut und böse, fortschrittlich und reaktionär.« (Thiel, 1981).
Walter Heynowskis Kurzfilm über Blutspenden für Vietnam - 400 CM3 - begleitet Dessau mit einer A-capella-Komposition für einen großen Chor.
Richard Cohn-Vossens Dokumentarfilm PAUL DESSAU - STUDIE ÜBER DIE AUFBAUENDE UNZUFRIEDENHEIT EINES KOMPONISTEN (1966/67) zeigt Dessau - neben einem Interview - bei einer Orchesterprobe und bei der Arbeit mit Schülern der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule I in Zeuthen, wo er seit 1954 wohnt.
Paul Dessau wird 1952 Mitglied der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, deren Vizepräsident er 1957-62 ist. Er betreut zahlreiche Meisterschüler, u.a. Friedrich Goldmann und Reiner Bredemeyer. 1965 wird er auch Mitglied der west-berliner Akademie der Künste, aus der er 1968 - unter Protest - austritt. Ab 1952 lehrt er an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin-Oberschöneweide und wird 1959 zum Professor ernannt.
Dessau heiratet 1952 in dritter Ehe Antje Ruge. Ab 1954 ist er mit der Choreografin und Regisseurin Ruth Berghaus verheiratet, der Sohn Maxim Dessau (geb. 1954) hat an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg studiert und ist Filmregisseur.
Paul Dessau stirbt am 28. Juni 1979 in Königs Wusterhausen.
Hans-Michael Bock
Auszeichnungen
1953 Nationalpreis III. Klasse.
1956 Nationalpreis II. Klasse für DU UND MANCHER KAMERAD im Kollektiv.
1965 Nationalpreis I. Klasse.
1965 Vaterländischer Verdienstorden in Gold.
1969 Karl-Marx-Orden.
1974 Nationalpreis I. Klasse.Literatur
Dessau zum Film
- Illustration und Komposition - Richtlinien und Ziele. In: Das Kino-Orchester, Nr. 27, 1.9.1928.
- Moderne Beiprogramm-Musik. In: Reichsfilmblatt, Nr. 43, 27.10.1928.
- Versuch, etwas über Filmmusik zu sagen. In: Film-Kurier, Nr. 13, 14.1. 1929.
- 4 Tage Tonfilmerfahrung = 4 Zeilen. In: Film-Kurier, Nr. 126, 11.9.1929.
- Meine Filmmusik. In: Progress-Presseheft: Du und mancher Kamerad. Berlin: VEB Progress Film-Vertrieb 1956, n.p. (Diese Texte sind im 1. Teil abgedruckt.)
- Biographische Skizze. In: Programmheft zu einem Konzert mit Werken von Paul Dessau in der Akademie der Künste zu Berlin am 28. Mai 1953, S. 5-9; auch in: Notizen zu Noten, S. 31-37.
- Paul Dessau: Notizen zu Noten. Hg. v. Fritz Henneberg. Leipzig: Reclam 1974, (RUB 571), 232 S.
- Paul Dessau. Aus Gesprächen. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1974, 272 S., ill. (Äußerungen Dessaus, Fotos, Werkverzeichnis, Bibliografie, Diskografie).
Bücher zu Dessau
- Fritz Henneberg: Dessau - Brecht. Musikalische Arbeiten. Berlin/DDR: Henschel 1963, 552 S.
- Fritz Hennenberg: Paul Dessau. Eine Biographie. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1965, 160 S.
- Fritz Hennenberg: Für Sie porträtiert - Paul Dessau. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1974, 72 S.
- Joachim Lucchesi (Hg.): Das Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung »Das Verhör des Lukullus« von Bertolt Brecht und Paul Dessau. Berlin: BasisDruck 1993, 443 S.
- Ulrich Dibelius, Frank Schneider (Hg.): Neue Musik im geteilten Deutschland. Dokumente aus den fünfziger Jahren. Berlin: Berliner Festspiele / Henschel 1993, 400 S.
Zur Filmarbeit
- Karl Schinsky: Gedanken über eine Filmmusik. In: Musik und Gesellschaft, Nr. 1, 1957, S. 11-15.
- Peter Voigt: »Paul Dessau«. In: Filmwissenschaftliche Mitteilungen, Nr. 4, 1967, S. 1352-1358.
- Michael Hanisch: Paul Dessau, der Filmkomponist und Film-Illustrator. In: Horst Knietzsch (Hg.): Prisma 6. Berlin/DDR: Henschel 1975, S. 118-138. (Mit Filmografie).
- Wolfgang Thiel: Filmmusik in Geschichte und Gegenwart. Berlin/DDR: Henschel 1981, passim.