FilmMaterialien 5 - Phil Jutzi

Er war ein herber Mensch

Der Drehbuchautor Dr. Willy Döll im Gespräch mit Gero Gandert

Aus einem Interview mit Dr. Willy Döll, geführt am 1. Mai 1976 in Laubach/Hessen.
Das komplette Interview ist archiviert in der Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin.


Wie stellt sich die Entstehungsgeschichte von MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK aus Ihrer Erinnerung dar?

Jan Fethke und ich wurden eines Tages von der Prometheus angerufen. Wir möchten mal raufkommen ins Produktionsbüro in der Hedemannstraße, und man erzählte uns von diesem Projekt. Ich weiß nicht genau, ob man uns damals schon etwas schriftlich gab.

Was hat man Ihnen gesagt? In welche Richtung ging das?

Wir wollen das Drehbuch von euch haben, nach dieser Erzählung von Heinrich Zille.

Und die hatte Otto Nagel zu Papier gebracht?

Ja, die hatte Otto Nagel wohl der Prometheus übermittelt. Über diese Vorgeschichte bin ich nicht unterrichtet. An uns trat man direkt mit der Bitte heran, wir möchten das Drehbuch schreiben.

Da waren wahrscheinlich nicht mehr als zwei oder drei Seiten? Oder war da schon ein Treatment?

Dreharbeiten zu MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK: Käthe Kollwitz, Wally Nagel

Nein, das dürften wohl nur zwei Seiten gewesen sein. Aber nach meiner Erinnerung hat man uns davon nur im Büro erzählt. Und dann tauchte Nagel auf, der an dem Film ein großes Verdienst hatte: Er brachte die Typen für diesen Film. Er kannte das Milieu, da er auch als Maler im Wedding wohnte, er kannte die Menschen dort, und er war es wohl, der sehr viel hereingebracht hat. Aber auch Käthe Kollwitz. Sie hat sich auch sehr um den Film bemüht. Sie war sehr oft im Atelier. Während Baluschek sich überhaupt nicht um den Film gekümmert hat, er hatte nur offiziell das Protektorat übernommen. Aber Kollwitz war sehr oft da, hat auch mit Jutzi sehr viel gesprochen, hat den beeinflußt. Das sah man dann an den Gesten. Sie war eine wundervolle Frau, eine so einfache, natürliche Frau.

Wenn wir noch mal zum Anfang zurückblenden. Man hat ihnen entweder ein kleines Exposé gegeben oder eine Geschichte erzählt ...

... das war erzählt ...

... dann haben Sie sich mit Fethke zusammen zurückgezogen. Wie war das damals?

Wir haben sehr viel mit allen möglichen Leuten gesprochen. Und immer, fast immer war dabei Robert Scharfenberg. Scharfenberg war überzeugter Kommunist. Er hat auch als Kommunist gelebt, sehr einfach, sehr primitiv. Er hat zum Beispiel niemals jemanden von uns eingeladen, um seine Wohnung nicht zu zeigen.

Haben Sie sich, sagen wir mal, in eine ihrer beiden Wohnungen zurückgezogen und gemeinsam getippt? Oder hat jeder eigene Szenen getippt?

Wir haben zusammen gearbeitet. Und zwar in den Räumen der Prometheus. Und wenn wir irgendetwas brauchten, Milieuszenen und so weiter, dann sind wir zu Nagel gegangen, zu Scharfenberg. Aber nie in Erscheinung getreten ist Richard Pfeiffer (Pfeiffer war bis 1930 in der Geschäftsführung der Prometheus. D.Red.). Ich erinnere mich nur, daß Pfeiffer mit dem Titel von uns, der einfach »Mutter Krause« hieß - nichts weiter - nicht einverstanden war und dann auch einen Tag später seinen Titel brachte. MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK ist von Pfeiffer.

Und das, was man ihnen von Nagel übermittelte, hatte noch gar keinen Titel?

Nein, das war nur diese Erzählung.

War das im großen und ganzen schon ein Handlungsaufriß - wie er dann realisiert worden ist? Oder ist Wesentliches verändert worden?

Es ist Wesentliches verändert worden. Aber die Handlungslinie an sich lag im Stoff. Ich weiß nicht, ob die Handlungslinie schon entwickelt war im Schriftlichen. Es ist eine Art von Aufzeichnung gewesen, keine eigentliche Handlungslinie.

Aber die Figuren ...

... die Figuren lagen fest, die waren von vornherein da ...

... auch die Demonstration?

Nein, das war noch nicht drin.

Sie haben in den Räumen der Prometheus geschrieben. Wurde da schon Jutzi herangezogen?

Ja, mit Jutzi haben wir auch sehr oft gesprochen. Und wir haben uns auch abends sehr oft getroffen und schon Einstellungen besprochen. Er hat sich aber nie um die Linie der Handlung gekümmert, nie um irgendwelche Einzelheiten des Drehbuchs. Und das war auch bei den späteren Filmen der Fall.

Haben Sie als Autoren von irgendwelchen anderen Instanzen Vorschläge, Direktiven empfangen? Haben z.B. Herr Pfeiffer oder Herr Nagel gesagt, das oder das muß verändert werden?

Nein, in die Handlungsführung hat uns niemand reingeredet. Die haben wir tatsächlich entwickelt.

Einschließlich der explizit politischen Szenen?

Nein, da sind Vorschläge gekommen. Aber meiner Ansicht nach erst nach Beendigung des Drehbuches. Da ist dann vieles erweitert worden. Ich erinnere mich an das Karl Marx-Bild. Das hatten wir nicht drin. Solche Sachen sind hereingekommen.

Das war in der Wohnung des Arbeiters?

Ja, in der Dachstube. Nur solche Einzelheiten ...

Wer hat diese Hinweise geliefert?

Das kann ich nicht mehr sagen. Die ganze Firma war ja für diesen Film da.

Und dann war das Manuskript fertig fixiert?

Ja, wir standen unter Druck, weil das Geld da war und Jutzi auch anfangen wollte. Und irgendwie waren auch schon Verträge, glaube ich, mit dem Atelier geschlossen. Wir hätten gerne noch einige Zeit daran gearbeitet. Vor allen Dingen: mein Steckenpferd möglichst viele Titel herauszunehmen.

Sind die Titel so gewesen, wie Sie sie heute in der Kopie sehen? Oder sind durch den Regisseur Details hinzugekommen?

Das eine kann ich nicht sagen, aber es sind Details hinzugekommen. Die hat er natürlich aufgenommen wie er sie gesehen hat. Zum Beispiel dieser tanzende Alte. Überhaupt die Typen, die da waren, diese lebendigen Menschen, die müssen ja einen Regisseur reizen, sie aufzunehmen.

Sie waren teilweise im Atelier und auch bei den Außenaufnahmen dabei?

Ja, ja.

Und wie war es mit Otto Nagel?

Otto Nagel war auch öfter da. Und Otto Nagel hat ja diese ganzen Geschichten mit organisiert. Er war wohl die treibende Kraft, die Schauplätze festzulegen, die Menschen, die richtigen Typen herauszusuchen, das ist das große Verdienst von Nagel. Denn der Film lebt ja von diesen Menschen. Wenn hier Schauspieler, Komparsen gestanden hätten, wär's nicht dieser Film.
Und Jutzi war der Regisseur für diesen Film. Weil er realistisch, hart ist; seine Einstellungen sind doch hart, nicht? Er geht den Dingen auf den Grund gewissermaßen. Er sieht sie. Jutzi war ein ganz, ganz einfacher Mensch.
Ein herber Mensch. Er sprach nicht viel. Was er sprach, hatte Bedeutung. Und in Unterredungen schwieg er sehr lange und hörte sich alles an. Und saß zusammengekauert da; und dann machte er einen Einwurf plötzlich, konnte auch eine Erklärung abgeben. Aber er sprach nicht lange.

Wo stand er Ihrer Meinung nach ideologisch? Stand er der KPD wirklich nahe?

Wissen Sie, er ist ein einfacher Mensch gewesen. Und den einfachen Menschen geht es auch um das tägliche Brot. Das tägliche Brot ist für sie ebenso wichtig wie alles andere.

Sie wollen es doch sicher nicht verkürzen auf die Aussage: Wess' Brot ich ess', dess' Lied ich sing'.

Nein, nein. Ich habe mit Jutzi oft gesprochen. Auch in den Kriegsjahren, als er beim Fernsehen war. Er war nicht politisch, bestimmt nicht. Er war natürlich angetan von dem Elend der Menschen, das ist klar. Als er bei der Weltfilm war, als Operateur war er fest angestellt, da wurde er rausgeschickt, da hat Polizei eingegriffen. Er war oft in Lebensgefahr. Er hat sich schon für die Belange der niederen Menschen eingesetzt. Aber es war bei ihm nicht mit politischen Dingen verbunden. Die hat er hingenommen.

Aber es hat ihn emotional doch tangiert?

Ja, das hat es. Er war aber kein Mensch, der sich wirklich da hineinstürzte, plötzlich, und dann mitschwimmt. Er hat in gewissem Abstand gewartet. Und so stand er im Leben überhaupt. Er hat sich zum Beispiel nie um die Manuskripte gekümmert, Jutzi stand und fiel mit dem Manuskript.

Aber wenn dann ein starker Stoff da war ...

... dann hat er ihn auch, wenn er ihn realistisch anpacken konnte, dann hat er ihn geschafft.

Wie hat er Regie geführt?

Ganz primitiv: »Stell' dich da hin! Mach' die Bewegung! Mach' die Bewegung!« Nicht, daß er irgendwie zu den Schauspielern hinging, wie andere Regisseure, und sie zu suggerieren versuchte. Er überließ das den Menschen. Und dadurch kamen diese Dinge zustande. Das ist das ungeheure Verdienst dieses Mannes.
Dadurch, daß er verwachsen war, war er auch schwer zugänglich. Er mußte erst Vertrauen zu den Betreffenden finden. Er war verschlossen. Wenn man bei ihm eingedrungen war, dann war es sehr leicht, mit ihm zu arbeiten.

Trifft zu, daß Frau Schmitt gesagt hat, ich mache mit für zweihundert Mark, wenn keiner mehr kriegt? Waren die Gagen so niedrig?

Das weiß ich nicht. Fethke und ich haben je 500 Mark bekommen. Denn wir wußten, das für den Film nicht mehr als 50.000 Mark zur Verfügung standen.

Haben Sie ein fertiges Drehbuch übergeben? Oder wurde noch während der Dreharbeiten überarbeitet?

Nein, das Drehbuch war fix und fertig. Jutzi hat es auch so gemacht. Es ist der einzige Film, an dem ich mitgearbeitet habe, der auch so realisiert wurde.
Das wird sie interessieren. Vor der Premiere wird der Film doch den Bezirksverleihern gezeigt. Wir saßen alle drei, Jutzi, Fethke und ich, in der Vorführung in der Hedemannstraße, und die Atmosphäre wurde immer drückender. Und zum Schluß gingen die alle schweigend an uns vorbei, und wir merkten, der Film ist durchgefallen bei diesen Leuten.

Das war die Reaktion der Leute, die den Film verkaufen sollten. Was war die Reaktion der Firma selbst?

Die Firma war nach dieser Vorführung nicht mehr so gnädig wie vorher. Sie waren im Zweifel.

Und dann kam er raus ...

Ja, bei der Uraufführung war ich nicht da, mein Vater war krank. Ich bin erst zwei Monate später nach Berlin zurückgefahren; ich glaube nach einem Anruf von Jutzi. Und da kam dann der »Aufstand der Fischer« von Anna Seghers als nächstes Thema.

Jutzi sollte den machen?

Prometheus hatte den Stoff gekauft, Jutzi sollte Regie führen. Und ich sollte das Drehbuch schreiben.

Wiederum mit Fethke?

Nein, allein. Jutzi hatte sich beklagt, daß Fethke zu oft die Presse gemacht hatte. Und ich machte einen Vertrag mit Prometheus und ging an die Arbeit.

Warum ist das nicht zustande gekommen?

Deswegen ist Jutzi ja sogar der NSDAP beigetreten.

Das müssen Sie noch etwas näher ausführen.

Er war verschnupft, daß er diesen schönen Film nicht bekam.

Was hatten Sie für einen Eindruck, was seine Stellung zum Dritten Reich anging? Hat er das über sich ergehen lassen? Hat er sich engagiert?

Engagiert hat er sich bestimmt nicht. Er hat ja schreckliche Filme gemacht, Kurzspielfilme, so dilettantisch, daß man fast das Gefühl hat, er hat es extra schlecht gemacht.
So war er aber auch, er war ‚primitiv'. Aber er hat ein ungeheueres Auge gehabt, einen Blick für das Bild, für die kleinste Änderung innerhalb des Bildes.

Könnte man zu dem Schluß kommen, daß diese Auffassung dem Stummfilm angemessener war als dem Tonfilm?

Ja, er war reiner Bildermensch, alles andere war nebensächlich.

Noch einmal zum »Aufstand der Fischer«. War es denn so, daß die Prometheus plötzlich kein Geld mehr hatte? Oder was war der Grund, daß der Film nicht realisiert wurde?

Die Geschäftsführung von Prometheus hat von Anfang an zu wünschen lassen. Immer! Sie waren keine Geschäftsleute.

Es waren ideologisch fixierte, engagierte Amateure? Oder wie würden Sie das nennen?

Es waren - wie das bei diesen Dingen ist - Parteileute. Die werden in diese Dinge gesteckt und die machen es dann - so gut sie eben können. Und so ist es eben auch mit dem Geschäftlichen.

Aber es war doch nun, wie Sie selber sagen, durch MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK eine Menge Geld reingekommen. Wo ist das geblieben?

Und auch JENSEITS DER STRASSE hat sein Geld gebracht... Aber die Dinge vorher, bei denen war eine Schuldenlast da und die wurde wohl nicht bewältigt.

Also wurde dieser Film nicht realisiert mangels finanzieller Masse?

Ich weiß nicht, was da der Grund war; da sind ja parteiliche Intrigen, da spielen alle möglichen Dinge mit. Wir haben damals an einem Abend zusammengesessen, bei dem Jutzi etwas mehr getrunken hat, und ich auch, als wir es sonst taten, und waren beide doch sehr, sehr enttäuscht. Jutzi war in jedem Fall sehr eingeschnappt. Er sagte ganz klar: »Ja, so ist es bei den Kommunisten immer.«


Nächster Artikel - Zurück zum Inhalt von Heft 5 - Andere Hefte der Reihe.