FilmMaterialien 6 - Paul Dessau.

Ein Fest des Tonfilms und des Mikrophons

Die Baden-Badener Kammermusikwoche 1929

Von Kurt London

in: Der Film, Nr. 15, 1.8.1929


(...) Dieses neunte Fest deutscher Kammermusik steht unter dem Zeichen des Mikrophons, und das verleiht ihm eine besondere Note. Das Mikrophon der Tonfilm-Aufnahmeapparatur und des Rundfunks - dieser beiden ungeheuren Erfindungen, die wahrscheinlich in künftigen Zeiten für gemeinsame Arbeit bestimmt sind, verlangt seine eigenen Gesetze. Sie zu erforschen, bedarf es langer Experimente voller schöpferischer Arbeit und - Geld. Heute, wo der Tonfilm im Brennpunkt des Interesses der eteiligten, Filmleute und Musiker, sowie der Allgemeinheit steht, wo es sich darum »dreht«, dem 20. Jahrhundert eine neuartige Kunstform zu schaffen, die in sozialer Bedachtsamkeit nicht nur für wenige, sondern für alle bestimmt ist, versucht man naturgemäß, auf alle möglichen Arten zu erforschen, wie man dem Ziel am besten und ehesten näherkommt.

Amerika: Technik -
Deutschland: Problem

Es ist psychologisch höchst interessant, hierbei die unterschiedlichen Wege festzustellen, die von Amerikanern und Deutschen im Verlaufe ihrer Experimente eingeschlagen wurden. Für die Yankees bleibt die Technik das Primäre - für die Deutschen das Problem künstlerischer Gestaltung. Die Tonfilmingenieure in den USA verbringen viele Monate mit sehr kostspieligen Forschungen nach der Wirkung einzelner Töne, der Anzahl ihrer Schwingungen, ihrer Mikrophon- und Lautsprecherwirkung schlechthin. Die Deutschen experimentieren viel weniger mit technischen Dingen: ganz abgesehen vom Kostenpunkt, ihre Produktionsleiter sind entweder Nurkaufleute oder Nurkünstler - Mischungen sind höchst selten und Techniker fast nie Produktionsleiter.

Die Tobis hat nun für die Baden-Badener Kammermusikwoche einige interessante und aufschlußreiche Experimentier-Tonfilme unter Produktionsleitung von Dr. Guido Bagier herausgebracht und stellt damit, wie sie sagt, »zum ersten Mal das moderne Instrument des Tonfilms in den Dienst neuester Musikbestrebungen«. (...)

Die Anregungen gaben hierzu die Herren Heinrich Burkard, dem die organisatorischen Hauptlasten oblagen, ferner die Komponisten Joseph Haas und Paul Hindemith. (...)

1. Tonfilme

Die besondere Wichtigkeit der Tobis-Tonfilme liegt in den verschiedenen Gesichtspunkten ihrer Komposition. Zwei Musikstücke wurden ohne Bilder nach dem Tobisverfahren aufgenommen; vorhandene Filme nachträglich vertont und synchronisiert, vorhandene Musik nachträglich durch einen Bildstreifen optisch illustriert; ein fertiger Film mit fertiger Musik synchron verquickt; schließlich drehte man einen Film, bei dem der optische Teil mit Sprach-, Geräusch- und Musikeffekten zugleich aufgenommen wurde. (...)

2. Episode

Musik von Paul Dessau. Nachträglich nach einer Idee optisch illustriert von Hans Conradi. Hier war die Musik zuerst vorhanden, ein Stück für kleines Orchester, das den schönen Namen »Der Nebbich« trug. Aber wahrhaftig, dieser Nebbich ersteht aus Dessaus Musik leibhaftig vor uns und so konnte es Conradi nicht schwerfallen, es optisch auszudeuten. Das Bedeutungsvolle an diesem Tonfilm ist der erstmalige Bruch mit der Gepflogenheit, erst für fertige Filme Musik zu beschaffen. Das Experiment glückte über Erwarten und beweist, daß man sehr wohl aus prägnanter, entsprechend geeigneter Musik filmische Ideen zu schaffen und zu verwirklichen vermag. Außerordentliche Ausblicke tun sich da auf.

Zu Dessaus geschickt erfundener Musik also, einer ironischen Chaplinade, erfindet Conradi folgenden, einleuchtenden Gedanken: ein mit Paketen beladener gutmütiger Tölpel sieht in dem Schaufenster eines Warenhauses, aus dem er kommt, ein hübsches Mädel Kleider und Badetrikots vorführen, wobei man anfangs im unklaren bleibt, ob es lebendig ist oder aus Wachs. Jedenfalls entzückt ihn dieser Anblick derartig, daß er, im ständigen Kampf mit seinen Paketen, die ihm dauernd entfallen, in der Windfangtür stehen bleibt, eingeklemmt wird, die Scheiben zerdrückt und den Verkehr hemmt. Erst einem hinzugerufenen Schutzmann gelingt es, die allgemeine Verwirrung zu meistern, indes die Dame im Fenster sich nach wie vor kokett um ihre eigene Achse dreht.

Der innige Zusammenhang von Musik und Bild in diesem Tonfilm ist vorbildlich und macht den Versuch beinahe zu einem Meisterstück des Tonfilmprinzips. (Ich betone einschränkend: Versuch und Prinzip.)

Mikrophoninstrumente kommen

Zahlreich sind die Anregungen und Ausblicke, die uns die Vorführung der besprochenen Tonfilme bot. Weit davon entfernt, sie für ein Endergebnis zu halten, dürfen wir dennoch bekennen, für die weitere Erforschung des Tonfilmwesens vieles gelernt zu haben - manches durch direkte Anschauung, anderes wieder auf dem Wege der Ideen-Assoziation.

Wir sahen, daß es vielerlei Arten gibt, Film und Musik zu einem untrennbaren Ganzen zu verschmelzen, sahen, daß die erhöhte Wichtigkeit der Musik dem Film eine große Anzahl neuer Freunde gewann, die sonst für immer Filmgegner geblieben wären. (Ein bekannter Musikkritiker, ergraut in seinem Amte, bekannte mir, daß er vor dem Tonfilm prinzipiell kein Kino besucht hätte.)

Wir lernten ferner, daß man auch beim Tonfilm große Schnittmöglichkeiten hat, daß innerhalb seiner Sphäre die »entfesselte Kamera« keineswegs ausgeschaltet zu werden braucht, soweit es sich nicht um das Plattensystem handelt; wir erkannten, daß für verschiedene Sujets verschiedene Tonfilmsysteme angewendet werden sollten, so daß man sich künstlerische Wirkungen wegen technischer Schwierigkeiten nicht entgehen zu lassen braucht. (Mit Ausnahme der Überblendungen beim Tonbildverfahren.) Endlich konnten wir eine Reihe klanglich-musikalischer Tatsachen konstatieren, die sich auf die tonliche Wiedergabe einzelner Instrumente bezog. (...)

Es wird ja sicherlich noch dazu kommen, daß man spezielle Mikrophoninstrumente konstruiert, wonach die mechanische Filmmusik eine absolut andere Klangfärbung annehmen würde. Dann erst könnten sich absolute Musik und solche in mechanischer Übertragung soweit voneinander scheiden, als dies notwendig ist. (...)


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