Als die Bilder singen lernten. Materialien zum 11. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 5. - 8. November 1998.

Zusammenfassungen der Vorträge

Marie-Luise Bolte, Hamburg:
Die Filmmusik der Musikfilme

Im Unterschied zu den meisten anderen im und am Film tätigen Künstlern haben die Musiker ihre wesentlichen Berufserfahrungen, Erfolge und Mißerfolge, ihre Professionalität nicht beim Film erworben. Außerdem wurde und wird die Musik dem Film meist dazugesetzt, ihm angeschneidert - umso interessanter sind die Musikfilme. Denn in ihnen wird die Musik einerseits selbst thematisiert, andererseits eine Brücke zu kulturellen Standards geschlagen, der Musikfilm verweist direkt auf das außerhalb des Films liegende Gängige und wirkt selbst einflußnehmend.

Ausgehend von der Behauptung, Musikfilme wollen mittels der neuen Technik und Technologie die Musik verbreiten und gleichzeitig mit der Musik die sich überstürzende technische Entwicklung emotional aufhalten, was schließlich nicht gelingt, stellt sich die Frage, woher die Musik der Musikfilme kommt.

Der Blick richtet sich auf die Korrespondenzen der verschiedenen kulturellen Sparten, in denen Musik vorkommt: Kabarett und Kleinkunstbühne, Operette, Oper, Sinfonie, Tanzmusik, Straßenmusik, Hausmusik, Zirkus, Revue und Kino bzw. Film.

Durch das personelle Netz der Komponisten, Sänger, Ensembles bis Orchestern ergeben sich klare und nachweisbare Bezüge, doch das Interesse fokussiert sich auf die Musik selbst. Ästhetik, Kompositionstechnik und ein Tableau der zum Teil sehr verschiedenen Ansätze sind Inhalt und Arbeitsfeld des Themas.



Daniela Sannwald, Berlin:
Der Ton macht die Musik - Überlegungen zum Genre Musikfilm

Der frühe deutsche Musikfilm ist ein weites Experimentierfeld für jede Art akustischer Äußerungen: Geräusch, Musik, Sprachen, Dialekte, Soziolekte und Gesang im On und im Off. Einen sehr elaborierten Gebrauch von all diesen Elementen macht DIE SINGENDE STADT (DE 1930, Carmine Gallone). Anhand dieses und weiterer Beispiele soll eine Begriffs- bzw. Genrebestimmung versucht werden: Was ist ein Musikfilm? Welche dramaturgischen Konzepte liegen ihm zugrunde? Wie wird der Einsatz von Musik motiviert? Und: Ist der Musikfilm nicht in erster Linie ein Geräuschfilm?



Francesco Bono, Rom:
Rom-Berlin-Wien: Über ein musikalisches Dreieck der 30er Jahre

Es fällt auf, wieviele italienische Musikfilme dem deutschsprachigen Kino etwas schuldig sind. Es gibt Versionen und Remakes deutschsprachiger Musikfilme, vor allem Anfang der 30er Jahre, als das Phänomen der mehrsprachigen Versionen europaweit verbreitet war.

Beispielhaft dafür ist Goffredo Alessandrinis LA SEGRETARIA PRIVATA, der Wilhelm Thieles DIE PRIVAT-SEKRETÄRIN kopiert. Weiterhin gibt es Filme, die unter Mitwirkung deutschsprachiger Filmleute (Regisseure, Drehbuchautoren, Schauspieler oder Produzenten) entstanden. Dies ist der Fall bei zahlreichen Musikfilmen von Carmine Gallone (verblüffend ist z.B. die Ähnlichkeit zwischen Willi Forsts LEISE FLEHEN MEINE LIEDER und CASTA DIVA), die im Mittelpunkt des Beitrags stehen.

Die Vielzahl italienischer Versionen oder Remakes deutschsprachiger Musikfilme sowie die häufige Teilnahme deutsch-sprachiger Künstler an italienischen Musikfilmen wirft Fragen auf: Wie kam es dazu? Übten die deutschsprachigen Filme und Filmschaffenden einen Einfluß aus? Welchen? Auf diese (und andere) Fragen sucht der Beitrag Antworten.



Horst Claus, Bristol:
Hans Steinhoff und der musikalische Film

In der Einführung der von ihm herausgegebenen Essaysammlung zum frühen deutschen Film A Second Life konstatiert Thomas Elsaesser einen Mangel an Untersuchungen über die Operette, der er eine bislang vernachlässigte Schlüsselpositon für die Entwicklung des deutschen Films zuweist. Ein Regisseur, dessen Arbeiten sich auf Grund seiner beruflichen Entwicklung zur Analyse von Einflüssen dieses musikalischen Genres auf den deutschen Film allgemein eignen, ist Hans Steinhoff.

Arbeiten über Steinhoffs Filme konzentrieren sich bislang ausschließlich auf dessen Ruf als linientreuer Propagandist des Dritten Reichs. Weniger bekannt ist, daß Steinhoff, ehe er sich 1921 mit 39 Jahren der Filmregie zuwandte, eine Theaterkarriere als Schauspieler, Operettensänger und Oberspielleiter an Revue- und Operettenbühnen hinter sich hatte. Zu seinem Sängerrepertoire gehörten u.a. der Gefängnisdirektor Falke (Die Fledermaus), Hans Styx (Orpheus in der Unterwelt), sowie (bereits kurz nach der wiener Uraufführung) der den Frauen im Maxim huldigende Graf Danilo in Lehars Lustiger Witwe.

Später war er Mitglied des Operettenensemble des Komponisten Jean Gilbert, danach Oberspielleiter in Berlin und (während des Ersten Weltkriegs) in Wien, wo er u.a. mit dem Komponisten Oscar Straus zusammenarbeitete.
Bereits Filmregisseur trat er noch in den 20er Jahren gelegentlich in Berlin als Operettentenor auf und inszenierte weiterhin Revuen (z.B. für Rudolf Nelson). In Steinhoffs Filmplänen spielt die Operette eine nicht zu übersehende Rolle. Der Bettelstudent gehörte zeit seines Lebens zu seinen (nicht erfüllten) Lieblingsprojekten. Um die Realisierung des Debureau-Stoffs bemühte er sich gut 15 Jahre, ehe daraus der TANZ AUF DEM VULKAN wurde. Gemeinsam mit Robert Liebmann schrieb er das Drehbuch für Max Macks DIE FLEDERMAUS (1923) und inszenierte die Kalman-Operettenfilme GRÄFIN MARIZA (1925) und DIE FASCHINGSFEE (1931) sowie musikalische Lustspiele (MADAME WÜNSCHT KEINE KINDER, KEINE ANGST VOR LIEBE, usw.).

Der Beitrag untersucht die Entwicklung von Steinhoffs Filmen mit Musik im Kontext der populären Unterhaltungskünste zwischen 1895 und 1930.



Brian Currid, Chicago/Berlin:
Schlager, Subjektivität, Ideologie - Der Sängerfilm und Organe der Erfahrung

Schlager und SchlagersängerInnen stellten ein Kernstück der Massenkultur in den 20er und 30er Jahren dar; sie dienten sogar als Metonyme für die massenkulturelle Erfahrungswelt dieser Periode.

Die komplizierte Funktion des Schlagers wird aber von Historikern und Musikwissenschaftlern noch immer hauptsächlich als schlichte »Manipulierung« begriffen, wenn nicht gar als Beweis für die negative Wirkungsmacht der Massenkultur schlechthin, die eine Schlüsselrolle im Erfolg des Faschismus gespielt haben soll. Aber da von einer eher vereinfachenden, »aufgeklärten« Vorstellung seiner Wirksamkeit ausgegangen wird, wobei die Wirklichkeit in der Ideologie »verkehrt« dargestellt wird, macht diese Deutungsweise es unmöglich, die Spezifität des Ideologischen in der Unterhaltungsmusik, oder überhaupt in der Massenkultur, zu theoretisieren.

Der Schlager wird in dieser Geschichtsschreibung weniger erforscht als vielmehr pauschal verurteilt, und zwar in Kategorien, die eine bestimmte Form der bürgerlichen Öffentlichkeit fetischisieren, die vermeintlich eine »Wirklichkeit« besser darstellen kann.

Als Beitrag zur Revision dieses Denkansatzes schlage ich vor, den Schlager als ein »Organ der Erfahrung« (Negt und Kluge) zu begreifen. Obwohl der Schlager einerseits am Erfahrungsverlust teilnimmt, der mit der Lohnarbeit einhergeht, ist der Schlager auch eine neue Form der gesellschaftlichen Erfahrung, wobei gesellschaftliche Gegensätze durch eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Ideologie und Subjektivität materiell verkörpert werden.

Anhand der Sängerfilme der Zeit wie DAS LIED EINER NACHT (DE 1932, Litvak) kann dieser Prozeß belegt werden: Die Durchsetzung des Alltags mit dem Schlager und die Technologien des Schlagers, die in diesem Film dargestellt werden, bieten ein paradigmatisches Beispiel dieses Prozesses an. Ein genauer Blick auf die Darstellung der neuen Klangöffentlichkeit des Schlagers in diesem Film zeigt, daß der Schlager nicht in einer rein heilen Welt der Fantasie verkehrt, sondern ein kompliziertes Moment darstellt, in der das bürgerliche Subjekt der Öffentlichkeit, der von den neuen Techniken, die den Schlager und Schlagersänger ausmachen, auseinandergenommen wird und auseinanderzufallen droht.



Jeanpaul Goergen, Berlin:
Experiment Musikfilm

SOUS LES TOITS DE PARIS von René Clair erlebte am 15. August 1930 im Berliner Mozart-saal seine deutsche Erstaufführung. Der Verleih hatte auf eine Synchronisation verzichtet und zeigte den Film in seiner Originalfassung. Die Kritik reagierte enthusiastisch. Eine Auswertung der zeitgenössischen Reaktionen versucht, die Schwerpunkte des filmkritischen Diskurses herauszuarbeiten.

Warum aber bezeichnete René Clair Walther Ruttmanns Tonfilm MELODIE DER WELT von 1929 als sein großes Vorbild? Und wie behauptete sich der Avantgardist René Clair in seinem ersten Tonfilm, den er für eine der großen Produktionsgesellschaften, die Films Sonores Tobis, realisierte?



Janina Jentz, Hamburg:
You go to see those beautiful girls - Weiblichkeit als Spektakel zwischen Star und Ornament

Wenn Busby Berkeley ganze Armeen von Frauen in säuberlichen Reihen aufstellt, dann wird die Bewegung der Narration zugunsten einer anderen Bewegung angehalten: der Bewegung des Spektakels. Wenn in DAMES unzählbare Girls das Gesicht von Ruby Keeler als Puzzle herstellen, dann fallen Fetischisierung als Star und als Ornament in eine Darstellung zusammen wie kaum irgendwo sonst.

Vielleicht ist es kein Zufall, daß Joan Riviere fast zur gleichen Zeit Weiblichkeit als Maskerade beschreibt. Was kommt der paradoxen Darstellung der Maske hinter der Maske, der unendlichen Maskierung der Leere näher als eine Schauspielerin, die eine Schauspielerin spielt, ein Show-Girl, das ein Show-Girl darstellt? Und ist das Spektakel der Revue nicht zugleich auch wieder der (scheiternde) Versuch diese endlose Verweisung der Maskerade in ihrer Form als Ware zu verendlichen? Die enge Verbindung von Militär und Revue im Massenornament verweist darauf, wie grundlegend die Maskerade nicht nur für die Konstitution von Weiblichkeit, sondern für die Konstruktion von Geschlecht überhaupt ist. Und vielleicht ist die Revueparade auch der Versuch diese gefährliche Erkenntnis, Potential der Militärparade, abzuwehren.

Im Revuefilm ist also in den Anfängen des Tonfilms ein ungewohnt große und explizite Häufung der verschiendenste Mechanismen der Konstitution von Geschlecht im Kino zu beobachten. Das und seine Selbstreflexivität prädestinieren ihn für eine exemplarische Analyse, sich in der über einen Vergleich auch die Stabilität und die Historizität dieser Mechanismen überprüfen ließen.



Donata Koch-Haag, Jena/Berlin:
Che farò senza euridice... - Die Stimme als Schauplatz des Geschlechterkampfes im frühen deutschen Tonfilm

Mit der Thematisierung der Stimme als Schnittstelle von Körper und Sprache in den Filmen der Transformationszeit rücken die kulturpsychologischen Aspekte dieser tiefgreifenden Umstellung im medialen System Kino in den Blick. Die zeitgenössische Diskussion um den Filmton und das Verhältnis der einzelnen Elemente zeigt deutlich, daß das neuartige Phänomen im Wesentlichen anhand der alten Paradigmen logozentristischer Weltkonzeptionen begriffen wird. Musik und Bild gelten gleichermaßen (wenn auch nicht in gleicher Weise) als das Andere der Sprache und werden - im Einklang mit einer langen Tradition - mit der »Leitopposition« der sexuellen Differenz korreliert.

Eine ganze Reihe von Filmen erzählt mehr oder weniger explizit von den daraus entstehenden Konflikten, wobei Widersprüche diverser Gender-Besetzungen auf verschiedenen Ebenen entstehen, die auch durch generisch stabilisierte narrative closure kaum gelöst werden können - wobei die Konventionen in dieser Zeit nicht gerade sehr stabil sind.



Horst Königstein, Hamburg:
Let the Music Play

Jeder macht seine eigenen Entdeckungen in seiner eigenen Zeit. Das gewesene Gefühl in der Zeit und die Wahrnehmung der - wie es im Thema heißt - »Goldenen Zeit« des Musikfilms sind nicht zu rekonstruieren - da mag man sich gern auf die Süffigkeit und Brillanz des berliner Feuilletons bis 1933 verlassen; auch auf die Kraft, die Gassenhauer über die Jahre hinaus behalten haben, ihre Renitenz gegenüber saucigen Einspielungen. Der Sound der berliner Jazz-Bands wie die Weintraub Syncopators, der Schmiß von Mackeben, die Kraft der Heymann-Sentimentalität, der Pop von Robert Stolz, die Unverschämtheit und Schnelligkeit von Hollaender bohrt sich über die Jahrzehnte immer wieder durch und behauptet sich.

Wenn wir über dieses Material reden, dann als Nutznießer. Wir überprüfen und schätzen ein - aus dem Repertoire der vergangenen Jahrzehnte, aus der flutenden Allgegenwart der abrufbaren Kopien, Kassetten, Clips. Wir suchen nach industriellen Standards und phantastischen Abweichungen, nach einem Produktions-Mehrwert, der sich auch heute noch entziffern läßt - der zum atemlosen Staunen und zur Nutznießung einlädt.

Der Blick ist am allgegenwärtigen Videoclip geschult; die digitale Bearbeitung hat die letzten Fantasieräume erschlossen. Und immer noch verkauft der Song den Film, der Film den Song...



Brigitte Mayr, Wien:
Eine Melange aus budapester Charme und wiener Ambiente - Der Musikfilm im temporären Exil in Österreich und Ungarn 1933 bis 1938.

Schon vor 1933 gab es einen regen Austausch von am Film beteiligten Personen zwischen Budapest, Wien und Berlin, doch nach Hitlers Machtübernahme avancierte Österreich unvermittelt zum Ausweichland für zahlreiche in der Filmbranche Tätige, die dem NS-Regime nicht genehm waren.

Daraufhin etablierte sich ein perfekt funktionierender österreichisch-ungarischer Produktionsraum, in dem es zu einer regen Zusammenarbeit und ergiebigen Fluktuation von Filmschaffenden beider Staaten kommt. Die besten Kräfte zeichnen - zumeist als erfolgreiche Teams, wie der Produzent Joe Pasternak, der Regisseur Hermann Kosterlitz und der Autor Felix Joachimson - für qualitativ anspruchsvolle Co-Produktionen oder Versionen in der jeweiligen Landessprache, wobei sich der Musikfilm zum bevorzugten Genre entwickelt. Seine essentielle Dynamik fußt auf dem geglückten Einsatz von Gesang, Musik und Tanz, erprobten Stoffen, kosmopolitischen Inhalten und Besetzungslisten wie auch dem außergewöhnlichen Talent der beteiligten Darsteller/innen, allen voran der ungarische Star Franziska Gaal, deren intensive physische Präsenz die Filme dieser Zeit (z.B. CSIBI, DER FRATZ - FRÜCHTCHEN; PETER und KLEINE MUTTI) maßgeblich prägte.

Doch die in vorauseilendem Gehorsam bereits vor der Annexion geübte Anpassung an die Filmpolitik des faschistischen Deutschlands, etwa die Einführung des sogenannten »Arierparagraphen«, resultierte letztlich darin, den wiener, berliner und budapester Emigranten den Boden für ihre Arbeit ganz zu entziehen, wodurch das produktive Klima, in dem zahlreiche »Ausländer« den österreichischen Film mit ihrer Arbeit bereichert haben, unsanft beendet wurde. Ein Teil der Filmschaffenden weicht nun ins Exil nach Amerika aus und versucht in Hollywoods Filmindustrie Fuß zu fassen.

Erfolgreich dabei agieren vor allem die bewährten und am Musikfilm der dreißiger Jahre geschulten Teams, insbesondere Henry Koster, Felix Jackson und Joe Pasternak, die mit den Deanna Durbin-Filmen der Universal-Produktion Kontinuitäten weiterschreiben.

Die durch die nationalsozialistische Regierung Deutschlands ausgelöste Emigration ins erste, innereuropäische Exil, hatte also die besten Kräfte in Wien und Budapest zusammengebracht und damit dem Musikfilmgenre zu einer Hochblüte verholfen. Der Ertrag aus dem leistungsfähigen Potential blieb der europäischen Filmbranche allerdings aufgrund der historischen Entwicklung versagt, denn erst im amerikanischen Exil kommt das Wissen, Engagament und Können der emigrierten Filmschaffenden voll zum Tragen.



Leonardo Quaresima, Bologna:
Am laufenden Bande der dramaturgischen Büros - Tonfilmoperette und Modernisierung

Im Zentrum des Beitrags steht die Neugründung der Muster des Musikfilms an der Kreuzung zwischen klassischen Formen und Avantgarde, »poetischem Realismus« und »neuer Sachlichkeit«, Großstadt-Melodram und Erlebnis-Subjektivierung.


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