Als die Bilder singen lernten. Materialien zum 11. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 5. - 8. November 1998.
Operette im Tonfilm
von Wilhelm Thiele
in: Film-Kurier, 1.2.1930
Die musikalischen Gesetze einer Operette liegen fest.
Man könnte für eine Tonfilm-Operette der Ansicht sein, daß die Gesetze der Bühne einfach auf den Tonfilm übertragen werden können. Das ist aber nicht möglich, weil für jeden Film, und das muß auch der Tonfilm in erster Linie sein, es für die Dauer langweilig wirkt, sogenannte längere Operetteneinlagen ohne Veränderung des optischen Geschehens zu bringen.
Das optische Geschehen muß den Ton oder die Musik unterstreichen und die Musik muß das Visuelle weitertreiben. Es kommt nicht darauf an, hier eine im optischen Sinne folgerichtige Handlung aufzubauen.
Das Wichtigste ist die Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Tonfilm-Regisseur. Ich glaube, daß bei keiner künstlerischen Betätigung das so notwendig ist, wie bei der Tonfilm-Operette.
Alle, die Sprache, die Musik, die Tonunterlage müssen von einem großen optischen und musikalischen Aufbau her geschaffen werden. Man darf natürlich hier in der Fortführung etwa der musikalischen Handlung - so möchte ich die musikalische Seite des Tonfilms nennen - keinerlei optische oder musikalische Pausen entstehen lassen.
Die musikalische Einlage, die einen großen Bestandteil einer Bühnen-Operette bildet, muß ganz und gar organisch gestellt werden. Sie muß genau die optische wie die musikalische Handlung weitertreiben.
Auf all das mußten wir bei dem neuesten Tonfilm der Erich-Pommer-Produktion »Liebeswalzer« in viel stärkerem Maße achten als bei einem Tonfilm ernsteren Sujets.
Bei einem ernsten Sujet müssen sich Handlung und Ton aus einer Quelle her ergeben, folgerichtig aufbauen und ausgestattet werden. Bei der Tonfilm-Operette ist das nicht immer der Fall.
Hier kann beispielsweise die Musik plötzlich ein erst später eintretendes optisches Geschehen vorbereiten, untermalen und in seiner Wirkung steigern. Es wird niemand bei einer Operette fragen, wo die Musik herkommt, wenn zwei Menschen in einem Auto plötzlich zu einer ausgezeichneten Orchestermusik zu singen beginnen.
Ich hätte hier, wenn ich unbedingt bei dem Realistischen hätte bleiben wollen, ein Grammophon zeigen können. Ich habe es nicht getan, denn gerade die Operette muß so leicht und so flüssig in ihrer Handlung und in ihren Melodien sein, daß man zwar bei der handlungsgemäßen Linie nicht nach einem »Warum« und »Weshalb« fragt.
Hier ist die Möglichkeit geboten, den Dialog durch die musikalische Erklärung zu steigern. Diese musikalische Erklärung einer Szene besteht daran, daß wir den Dialog, den die Menschen führen in der Musik thematisch steigern, um so die optische Situation zu erklären und zu verstärken.
Zu allen diesen Dingen kommt die musikalische und tonliche Freiheit, die sich aus dem Begriff einer Operette ergibt.
Trotzdem muß man so dezent, so unaufdringlich wie irgend möglich im Gebrauch dieser Mittel sein, denn es fallen natürlich bei einer Tonfilm-Operette die Extempores der Schauspieler weg, die oft den Erfolg eines Stückes bedingen.
Die Tonfilm-Operette ist ein weiterer schlagender Beweis für die Notwendigkeit des Tonfilms; ohne jedoch etwa die Bühnenoperette in irgendeiner Weise zurückdrängen zu wollen, gibt natürlich der Tonfilm die Möglichkeit, in weit stärkerem Maße Melodien volkstümlich zu machen und alte Volkslieder zu neuem Leben zu erwecken.
Er wird schon allein durch die Freiheit, die er in der Wahl seiner Schauplätze hat, einen ganz anderen Weg gehen als die Bühnenoperette.
Er wird aber das werden, was uns vorschwebt, ein richtiger Beitrag zur Vertiefung der Ausdrucksmittel des Films überhaupt.
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